Mutwillige Betrachtungen zum Schwirrholz
(Vortrag aus dem Jahre 1990; gehalten am Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR)

Meine erste Begegnung mit diesem eigenartigen Tonerzeuger hatte ich vor über vierzig Jahren in meiner frühen Schulkinderzeit im Saargebiet.
Damals wurde dort in den unteren Schulklassen das Schreiben noch mit dem Griffel auf einer Schiefertafel geübt; man verschwendete also weder Papier noch sonstiges Schreibzeug.
Aber das Ergebnis der Übung auf der Tafel hatte auch nie lange Bestand. Immer wieder mußte es mit einem feuchten Schwamm, der auch für Korrekturen benötigt wurde, abgewischt werden um Platz für neue Aufgaben und Übungen zu machen.
Dieser Schwamm, der als Zubehör zu Tafel und Griffel weitaus wichtiger war als etwa heute der Radiergummi für ein bleistiftschreibendes Kind, mußte also stets zur Hand sein und sorgsam feucht gehalten werden. Er mußte aber auch achtsam aufbewahrt werden, da ein solch nasses Ding leicht Schaden an anderen Schulsachen anrichten konnte. Es war also üblich den Schwamm an eine Schnur zu binden, die in einer Bohrung des hölzernen Schülerlineals - ebenfalls ein zur Schularbeit obligatorisches Utensil - verknüpft wurde.
Beide Werkzeuge konnten so, obwohl fest verbunden, immer noch unabhängig voneinander in ihrer ursprünglich beabsichtigten Funktion benutzt werden. Das Lineal bekam jedoch eine von ordnungsliebenden Erwachsenen vorgesehene neue Funktion. Es diente so auch zur sicheren, schadensverhütenden Aufbewahrung des Schwammes, denn dieser konnte auf dem Schulweg, fest mit dem Lineal verbunden, sicher außerhalb des Schulranzens baumeln.
Daß Schülerlineale ein solches Loch tragen hängt wohl auch damit zusammen. Und dieses Loch gehört inzwischen so sehr zur Form dieses Schulwerkzeugs, daß es auch heute noch allenthalben üblich ist Löcher in Lineale zu machen, auch wenn diese nicht mehr in oben erwähnter Weise benötigt werden, und wohl eher an Tische und Wände, als an feuchte Schwämme gehängt werden.
Bei moderneren Linealen aus Kunststoff können einem sogar Exemplare begegnen, bei denen dieses Loch zwar nicht mehr vorhanden ist, aber nun, als deutlich sichtbares und offenbar schwerlich zu entbehrendes Formelement, genau an der richtigen Stelle und in entsprechender Größe, ein geradezu magisch-traditionelles Kreiszeichen ins moderne Material eingebracht wurde.
Für solche Phänomene interessiert sich bekanntlich ein Zweig der modernen Verhaltensforschung, - die Kulturethologie.
Für die Schülerlineale aber, bei denen dieses Loch noch im oben geschilderten Zusammenhang existierte, kann sich etwa die Volkskunde, insbesondere aber die Musikethnologie und die Musikinstrumentenkunde interessieren, denn solche Lineale sind allesamt potentielle Schwirrhölzer.
Ob und inwieweit sie es jeweils real sind, ob sie es jeweils real werden können und inwiefern sie, wenn sie es einmal wurden, dann auch fernerhin als solche gelten können, wird aber auch - sofern man prinzipiell fragt - eine Fragestellung aus dem Interessengebiet der Philosophie sein.
Eigentlich eine ganz existentielle Frage, und zwar im doppelten Sinne.
Einmal, weil hier nach der wirklichen Existenz einer besonderen Sache gefragt wird, nämlich nach der wirklichen Existenz eines Musikinstrumentes, die, so man prinzipiell fragt, auch die Frage nach Widersprüchlichem und Wesentlichem einschließen muß, und zum anderen, weil die Existenz der Philosophie selbst in Frage stünde, wenn wir es uns versagen würden solche Fragen akribisch zuzuspitzen und detailliert Zugespitztes immer wieder verallgemeinert zur Frage zu erheben.
Im oben geschilderten Fall hängt es aber vor allem von der mutwilligen Tat kleiner Schulkinder ab, ob wirklich ein Schwirrholz zustande kommt, ob tatsächlich Schülerlineale zu Schwirrhölzern umgeschwungen werden.
Ein feuchter Schwamm und ein etwas längeres Lineal sind jedes alleine für sich genommen schon hinreichend attraktive Gegenstände um damit im wohlorganisierten Schulbetrieb übermütig Unfug und sorglos Allotria zu treiben oder auch gezielt Unruhe und Unordnung zu stiften. Ob nun aus Unmut oder Übermut, aus Mutwilligkeit oder Unwillen - mit einem feuchten Schwamm läßt sich im Schüleralltag mehr ausrichten als immer nur wohlgefällige Ordnung auf einer kleinen Schiefertafel zu halten und Leistungsnachweisen den letzten Schliff zu geben.
Noch augenfälliger ist dies beim Lineal, welches bis heute einen festen Platz in rebellischer Schulkinderfolklore behaupten kann. Bei der Vielzahl von Möglichkeiten im unartigen Umgang mit diesem Schulwerkzeug ist nun eine von besonderer Bedeutung.
Ein wild an der Schnur herum geschleudertes Lineal läßt Kinder die dies wagen plötzlich in eine ganz andere Welt geraten, denn der dabei entstehende Schwirrholzton - ein tiefes Brummen - übersteigt alle bisherigen Erfahrungen.
Was sich ansonsten mit dem obligatorischen Schulwerkzeugen Schwamm und Lineal auch außerhalb und entgegen den Lern- und Spielverordnungen der Erwachsenenwelt alles anstellen lies, konnte vielleicht zu Erschrecken, Ärger und aufgeregten Vergnüglichkeiten, aber kaum zu einem solch andächtigen Erstaunen wie beim unheimlichen Erklingen des Schwirrholzes führen. Eine durchaus ähnliche Unheimlichkeit wie etwa ein pfeifender Rohrstock, der in diesem Schulbetrieb, wo die Prügelstrafe noch Usus war, durchaus in Aussicht stand, wenn man vielleicht bei derartigen Ungehörigkeiten ertappt oder verraten wurde.
Ich habe die Schule im damals französischen Saargbiet, aus welcher derartige Erfahrungen stammen, nicht lange besucht und meine weitere Schulzeit in der DDR verbracht.
In Sachsen, Brandenburg und Thüringen sind mir dann weder Schiefertafeln bei Schulkindern, noch Rohrstöcke bei Lehrern und - es ist schwer abzusehen wie viele andere Zusammenhänge und Gründe es da noch geben mag - auch niemals Schwirrhölzer bei Kindern begegnet.
Das mir beinahe in Vergessenheit geratene Instrument erlebte ich erst viele Jahre später wieder im rumänischen Banat, wo ich es bei einer Gruppe spielender Kinder im Freien beobachten konnte. Jeweils ein Spieler mußte mit dem Schwirrholz - hier eine einfache Holzschindel - gegen alle anderen Mitspieler antreten. Sobald der Brummton erklang konnte versucht werden das gefährliche Gerät zu erobern, wohingegen der Schwirrholzschwinger seinerseits versuchen konnte durch immer heftigeres Schleudern, sowie ständiges und gezieltes Verlagern der Schwingungsebene des Schwirrholzes, verbunden mit eigenem Angreifen oder Flüchten, der Eroberung zu entgehen. Eine besondere Taktik bestand dabei auch darin unterschiedliche Schnurlängen zu nutzen oder gar die Länge der Schnur während des Schleuderns zu verändern. Mit kurzer Schwirrholzschnur läßt man die Angreifer zwar näher heran, kann aber mit hoher Umdrehungzahl umso furchterregender, heftiger und auch wirklich gefährlicher Schleudern, sowie auch besser einen gezielten Gegenangriff unternehmen, wohingegen eine längere Schnur zwar den Abstand zu den Angreifern vergrößern kann, aber das in Schwung gehaltene System wird insgesamt träger und gibt somit den Angreifern auch mehr Chancen ungefährdet in den größeren Flugkreis des Schwirr-holzes einzudringen um den Dreh- und Angelpunkt des Ganzen zu erobern und dann für ein neues Spiel wieder in Gang zu setzen.
Hierzulande ist mir das Schwirrholz erst wieder im Scheinwerferlicht des halbverdunkelten großen Saals der Berliner Volksbühne begegnet.
Nicht mehr in Kinderhand und auch nicht mehr im Rahmen ungezwungenen selbstgeschaffenen Kinderspiels, sondern eher als exotische Konzert-Delikatesse im Rahmen einer Kult-Veranstaltung, welche die höhere Weihe allerhöchster Leitungsinstitutionen genoß; und natürlich war es eine Musikantengruppe aus fernen Ländern, die da im Rahmen des ‘Festivals des Politischen Liedes’ mit den ungewohnten Tonerregern auf der Bühne stand.
Es war dies zu einer Zeit, als derartige Veranstaltungen, welche ursprünglich aus folkloristisch-musikantischen Aktivitäten entstanden waren, sich aber alsbald unter den Vorzeichen und Leitsignalen staatlicher Kulturpolitik zur aufklärerisch-belehrenden ‘FDJ-Polit-Liedbewegung’ entwickelt hatten, nun in immer zunehmenderem Maße Merkmale und Mechanismen des Show-Business offenbarten, die sich freilich - da sich das ganz große Geld auf diesem Sektor ohnehin nicht machen ließ - mehr in Richtung Kultur-Lobbyismus, welcher sich vornehmlich auf Machtpositionierung in den Medien orientierte, auswuchsen.
Eine kulturelle ‘Szene’, die kaum wirklich gute Musikanten, wohl aber einige Schlagersänger und vor allem eine Vielzahl von Kulturfunktionären hervorbrachte, welche bereits damals begannen wichtige Positionen in den Medien und Kulturinstitutionen des Landes zu besetzen.
Und in diesem Übergang von der Volksbelehrung zur Volksunterhaltung, in dem freilich ein gewisses romantisch-revolutionäres Image - welches ja auch nie frei von Bezauberung und Betörung war - weiter gepflegt wurde, machte sich die Vorführung von exotischen Schwirrhölzern ganz gebührlich.
Es war, als ob nun ein raffiniert agierendes Lehrerkollegium ahnungslosen Kindern plötzlich mit dem Schwirrholz kommt.
Und das Publikum, wie zumeist bei solchen Veranstaltungen, vorwiegend aus Schülern und jungen Studenten rekrutiert, war auch gebührend beeindruckt von den erstaunlichen, nie gehörten Kultgeräten, die in diesem Falle natürlich keine einfachen Holzbrettchen oder etwa Schülerlineale waren, sondern magisch-traditionelle Formen und Zeichen trugen und zweifelsfrei reine Musikinstrumente sein mußten...
Damals wußte ich noch nicht, daß das Schwirrholz schon lange von der Musikethnologie als das "vielleicht älteste, weitverbreitetste und heiligste religiöse Symbol auf der Welt" aus-gemacht worden war.
Eine solche Auffassung hat jedenfalls Ende des vorigen Jahrhunderts der englische Ethnologe A.C.Haddon geäußert, und O.Zerries, der die bisher wohl umfassendste Abhandlung über das Instrument veröffentlichte, zitiert diese Ansicht gleich zu Beginn seines 1942 in Stuttgart erschienen Buches "Das Schwirrholz", ausdrücklich zustimmend.
Zerries betont auch, daß bereits die antike Philosophie auf das Schwirrholz aufmerksam geworden war: Der Philosoph Archytas aus der Schule der Pythagoräer, vermerkte über die Schwirrhölzer, auch bei diesen zeige sich, daß sie, wenn langsam bewegt, einen tiefen, und wenn stark bewegt, einen hohen Ton geben.
Wichtig bei dieser Aussage des Philosophen ist, daß hier eigentlich nicht die genaue Beschreibung der Funktionsweise des Instrumentes gegeben werden sollte, sondern vor allem ein Beispiel für einen allgemeineren, in der Akustik häufiger anzutreffenden Zusammenhang angeführt wurde. Ein Zusammenhang, der sich eben auch bei den Schwirrhölzern offenbarte: schnellere und stärkere Bewegung kann zu einem höheren Ton führen.
Nicht richtig ist hingegen die häufig in der Literatur anzutreffende verkürzte Darstellung, nach der man beim Schwirrholz nur schneller schleudern muß, um einen höheren Ton erzeugen zu können.
Dieses scheinbar einfache Gerät verhält sich in der Wirklichkeit viel komplexer und weitaus eigenwilliger, ohne daß dies jedoch bislang in der instrumentenkundlichen Literatur aufgearbeitet, genau analysiert und in den einschlägigen Darstellungen adäquat wiedergegeben wird. Ich meine aber, daß seine komplexe Wirkweise als Tonerzeuger eben auch im Zusammenhang mit seiner so komplexen kulturellen Bedeutung gesehen werden muß. Die Beschreibungen des Instrumentes und seiner Funktionsweise sind aber auch in der modernen wissenschaftlichen Literatur nicht nur einseitig und unvollständig, sondern oft auch fehlerhaft.
Einseitig, weil - wie bei vielen anderen Musikinstrumenten auch - in der Regel mehr Gewicht auf eine Analyse als Kultur- und Kunstgegenstand gelegt wird, und die konkrete physikalische Funktionsweise weniger beachtet wird, bzw. in der Analyse zu kurz kommt und dann meist auch nicht für ein tieferes Verständnis seiner Existenz als Kultur- und Kunstgegenstand genutzt wird.
Unvollständig, weil dann Wesentliches zu seiner Physik, aber auch zu seiner konkreten Handhabung als Musikinstrument unbetrachtet bleibt und der Analyse nicht wert erscheint,
Fehlerhaft, insofern sich tatsächlich viel schlichtweg Falsches in den Darstellungen findet, welches unter den obigen Vorzeichen dann auch ein zähes, dogmatisches Dasein in der wissenschaftlichen Literatur verliehen bekommt, und so immer weiteres Fehl- und Nichtverständnis vermittelt.
Die erwähnte These Haddons über das Schwirrholz als das ‘vielleicht älteste, weitverbreitetste und heiligste religiöse Symbol’ ist vielleicht anfechtbar - er selbst formuliert ja vorsichtig - und möglicherweise gibt es doch noch ältere, weiterverbreitetere und heiligere religiöse Symbole auf der Welt.
Es bleibt aber eine bemerkenswerte Tatsache, daß die Wissenschaft unter allen Symbolen und Gegenständen die die Menschheit je hervorgebracht hat, gerade einem Musikinstrument einen solch favorisierten Platz zuordnen möchte.
Und unter den Musikinstrumenten selbst gibt es sicherlich keinen Konkurrenten für eine derartige Rekordposition des Schwirrholzes.
Ich würde darüber hinaus gerne die These aufstellen, daß das Schwirrholz noch weitere erstaunenswürdige Rekorde hält, die sich aus einer genaueren Analyse seines Verhaltens ergeben; - hier aber nicht alle angeführt werden können.
Als vielleicht bemerkenswertesten Rekord möchte ich dabei jedoch wieder die Permanenz und das hohe Maß des Einseitigen und Falschen, welches sich in der musikwissenschaftlichen Literatur gerade zu diesem Instrument festgemacht findet, hervorheben.
Meiner Kenntnis nach gibt es kein anderes Musikinstrument, bei dem die Diskrepanz zwischen seiner großen geschichtlichen und kulturellen Bedeutung einerseits, und dem entsprechenden Niveau seiner wissenschaftlichen Erfassung und Bearbeitung, andererseits, so erheblich ist.
Diese Diskrepanz, die meiner Auffassung nach auch mit einer bestimmten Konzeption zur wissenschaftlichen Systematisierung von Musikinstrumenten zusammenhängt, erscheint mir schon lange als so offensichtlich und so empörend, daß ich nun nicht dazu neige dies in wohl-gefälliger Literaturaufbereitung mit vielen Zitaten in aller Artigkeit nachzuweisen und mit entsprechend subalternen Detailbemerkungen kritisch zu kommentieren.
Viel eher scheint es mir dringend nötig, nun in unmittelbar sachlicher Forschung auf die tatsächlichen Möglichkeiten und Funktionsweisen dieses Musikinstrumentes konkret und im Detail einzugehen, um dann auch weiterreichende Konsequenzen für das Gesamtsystem der Musikinstrumente, sowie darüber hinausgehender Probleme, anzuzielen.
In der weiteren Forschung wird also die konzentrierte Sicht auf das spezielle Instrument auch immer wieder zu verlassen sein, um dann - mit analytisch-vergleichender Sicht auf andere Instrumente und Wissenschaftsbereiche - die Optik der Betrachtung jeweils erneut zu erweitern und somit schließlich auch bestimmte Gründe und Ursachen der in meiner These monierten Situation besser ins Blickfeld rücken zu können.
Zunächst möchte ich mich aber nun wieder den möglichen Erfahrungen von Schulkindern zuwenden.
Ein Schwirrholz schwingendes Kind konnte mit Lineal, Schnur und Schwamm bereits tiefgreifende und wesentliche, über seinen sonstigen Alltag weit hinaus reichende, physi-kalische Erfahrungen gemacht haben, lange bevor Masse, Energie, Impuls, Schwingung, Elastizität, Torsion, Rotation oder Fliehkraft etc. im Lehrplan erscheinen. In der Regel werden ihm diese früheren Erfahrungen aber nicht mehr so unmittelbar gegenwärtig sein, wenn sein Lebenslauf diese Lehrplanpositionen erreicht hat. Ein Schwirrholz wäre, in der Vielfalt seiner physikalischen Verhaltensweisen aber durchaus als attraktives Lehr- und Lernmittel der Mechanik, vielleicht auch der Schwingungslehre und der Akustik, geeignet; und könnte darüber hinaus natürlich auch in weiteren Bildungsbereichen, bis hin zu wesentlichen Lebenswissenschaften wie Biologie, aber auch in Anthropologie und Geschichte, eine wichtige Rolle spielen...
Für die Gepflogenheiten des bei uns üblichen Schulunterrichts wäre es jedoch bereits ein ziemlich ungewöhnliches Unterfangen, zeigen zu wollen, wie bei diesem Gerät eigentlich ein Ton entsteht. Da hat die Physik - insbesondere die Schulphysik - einleuchtendere und der lehrergeleiteten Analyse leichter zugängliche Modelle zur Hand. Beispielsweise die Lochscheibensirene oder, wie allenthalben üblich, die schwingende Saite, als eines der gebräuchlichsten und wesentlichen Modelle der physikalischen Schwingungslehre und der Akustik.
Die Lochscheibensirene verdankt ihre Anschaulichkeit der interessanten Tatsache, daß hier, wie sonst bei keinem anderen Tongenerator und auch bei keinem anderen Musikinstrument, durch eine vollständig künstliche, relativ einfache technisch-mechanische Vorrichtung, exakte periodische Luft-Impulse direkt im schallleitenden Medium erzeugt werden können, und sich dabei die Höhe und die Lautstärke der so erzeugten Töne durch leicht überschaubare Veränderungen bestimmter Parameter der betriebenen Vorrichtung beeindruckend und anschaulich verändern lassen.
Archytas hätte hier beispielsweise wieder einen guten Beleg für den von ihm beobachteten und hervorgehobenen Zusammenhang von Bewegung und Tonhöhe vor sich: je schneller sich die Lochscheibe dreht, um so höher der Ton; wobei am Modell der Lochscheibensirene dann auch gut gezeigt werden kann, daß, im Unterschied dazu, die Lautstärke nicht vorrangig von der Geschwindigkeit mit der sich die Scheibe dreht, sondern vor allem von der Stärke mit der die rotierenden Löcher an der Scheibe angeblasen werden, abhängig ist.
Bei schwingenden Saiten lassen sich diese Zusammenhänge zwar nicht ganz so glücklich darstellen und veranschaulichen, aber als Experimental-Modell der Akustik können sie wiederum eine besonders anschauliche, selbst fast greifbar bildliche, Vorstellung von Schwingungen geben, wobei sich dann noch eine Reihe anderer grundsätzlicher Phänomene der Akustik, wie Klangfarben, Obertöne, Mehrtönigkeiten, Klänge, Harmonien etc. an diesem Modell besonders vorzüglich analysieren und ableiten lassen.
Die Lochscheibensirene ist demgegenüber ein in seinen Funktionen zwar anschaulicheres, aber insgesamt viel ärmeres Modell, dem es zudem, gerade etwa auch im Vergleich zum Schwirrholz, an bedeutungsvoller Geschichtlichkeit mangelt. Aber das, was es vor allem anschaulich zu machen vermag, nämlich wie Schallschwingungen im Medium Luft effektiv erzeugt werden können, das ist bei der Saite eben doch viel schwieriger zu veranstalten und viel schwieriger zu überschauen. Hier müssen, wenn sie für ein Musikinstrument genutzt werden soll, ihre primär realisierten Schwingungen erst sekundär auf das Medium Luft übertragen werden.
Ein komplizierter und keineswegs anschaulicher Vorgang.
Dieser Unterschied ist unter akustisch-physikalischem Aspekt betrachtet von grundlegender Bedeutung.
Er ist es selbstverständlich in noch schwerer wiegender Weise für das Verständnis der grundlegenden Probleme der Existenz- und Entwicklungsmöglichkeiten von Musikinstru-menten.
Bei den meisten Musikinstrumenten wird zur Schallerzeugung eine besondere schwingungs-fähige bzw. zu effektiver Erschütterung fähige Substanz genutzt, von welcher eben erst sekundär Schwingungen an das schallleitende Medium abgegeben, bzw. weitergeleitet werden.
Hier spielen dann auch die meist schwer zu überschauenden und schwierig zu beherrschenden Probleme eine Rolle, die eben auch bei einer schwingenden Saite vorliegen, wo es keineswegs leicht ist genau zu verstehen, wie die Umwandlung ihrer, im Prinzip eigentlich lautlosen Schwingungen, in hörbare, effektive Schallereignisse vonstatten geht.
Und noch problematischer kann es werden, wenn es darum geht diese ‘Umwandlung’, diesen ‘Übergang’, in der praktischen Konstruktion eines Musikinstrumentes zu verstehen und entsprechend bewußt und gekonnt zu optimieren.
In erweitertem Sinne besteht diese Schwierigkeit aber auch in bezug auf das Verständnis von prinzipiellen Konstruktionsmöglichkeiten und Konstruktionsgesetzmäßigkeiten bei Musikinstrumenten uberhaupt, von dem sich dann auch ein grundsätzlicheres Verständnis prinzipiell möglicher Grundlinien ihrer Entwicklung ableiten ließe; - ein Verständnis, welches freilich wiederum nur mittels einer bestimmten gedanklichen Systematisierung die die Gesamtheit der Musikinstrumente prinzipiell zu erfassen sucht, ermöglicht wird.
In einer so begriffenen Systematik der Musikinstrumente gehört nun das Schwirrholz, ebenso wie die geschilderte Sirene, zu einer kleinen Minderheit von Instrumenten, die sich wesentlich dadurch von anderen unterscheiden, daß sie eigentlich über keine eigene Möglichkeit innere Erschütterungen bzw. Schwingungen hervorzubringen, verfügen müssen, aber doch, aufgrund ihrer Konstruktion und ihrer Funktionsweise, im Medium Luft Töne und Schallereignisse herbeiführen können.
Das Schwirrholz verwirbelt und erschüttert die Luft unmittelbar, ohne sich selbst in seiner inneren Substanz sonderlich zu erschüttern, oder seine inneren Erschütterungen der Luft schalllwirksam mitteilen zu müssen.
Es bringt ein Schall- bzw. Tonereignis ohne die Hilfe einer instrumentenintern-primär schwingenden Substanz zustande. Auf seinem Schleuderkreisweg an der Schnur verwirbelt es einfach zwangsläufig, man könnte fast sagen, gewaltsam - ebenso gewaltsam wie die Lochscheibensirene einen gegebenen Luftstrom einfach in Impulse zerhackt - , die Luft in seinem Umkreis, ohne daß es selber innerlich zu Schwingungen angeregt würde die für den Schwirrton zuständig oder wesentlich wären. Hier wird also zum Zwecke der Schallerzeugung unmittelbar der Luft selbst, und nicht eigentlich dem Schwirrholz, schwingungserzeugende Gewalt angetan.
Wer geschickt auf ein Holzlineal klopft, oder es etwa, - an einem Ende festgemacht, durch Anreißen des anderen Endes - zum federnden Schwingen bringt (wie es aufgeweckte Schulkinder bis heute tun), kann wunderbare Geräusche und Töne erzeugen, die aber nichts mit dem völlig andersartig entstandenen Schwirrholzton (den Schulkinder heute offenbar kaum noch erzeugen) zu tun haben.
Man kann ein einzelnes flaches Holzscheit eines Xylophons, welches dort aufgrund seiner eigenen Schwingungsfähigkeit für einen ganz bestimmten Ton zuständig ist, auch als Schwirrholz an der Schnur nutzen. Es werden dabei völlig andere Töne entstehen - weder Klang noch Tonhöhe des Xylophontones sind auf diese Weise jemals erreichbar. Als Schwirrholz genutzt verhält sich das Holzstückchen eigentlich passiv und neutral. Es kreist innerlich unerschüttert an der Schnur und verwirbelt dann, wenn genügend lange und genügend heftig geschleudert wurde, endlich selbst die Luft in schallerzeugender Weise. Man kann es nach einer solche Prozedur unbeschadet zurück aufs Xylophon legen, wo es wieder für seinen eigenen, durch innere Bedingungen bestimmten, Ton bereit sein wird. Dort sind seine spezifischen Materialeigenschaften sehr wesentlich und im Sinne der Instrumental-konstruktion genau bestimmt worden. Sie müssen für seine Tonfunktion gut ausgewählt, bzw. exakt vorbereitet sein. Nur wenige Hölzer eignen sich sinnvoll für ein Xylophon; nur wenige andere Materialien eignen sich für vergleichbare ähnliche Instrumente (Metallophone, Lithophone etc.).
Um als Schwirrholz genutzt werden zu können sind die Materialeigenschaften des umgeschleuderten Flachkörpers aber weitaus weniger wichtig. Wesentlich ist vor allem seine Form. Es genügt, wenn er aus einem einigermaßen festen und hinreichend schwerem Material beschaffen ist.
Hinreichend schwer, damit die Fliehkraft beim Umschleudern genügend wirksam werden kann um ihn am gestrafften Faden in eine sichere Umlaufbahn zu zwingen - aber natürlich nicht zu schwer, damit ihm immer die Möglichkeit bleibt, die Luft auch effektiv zu verwirbeln. Und hinreichend fest, damit er seine Grundform während des Schleuderns und Wirbelns nicht allzusehr verändert, oder gar verlieren muß.
Das spezifische Gewicht und die innere Struktur des Materials aus dem ein beliebiger funktionsfähiger Schwirr-Körper beschaffen sein mag, kann sehr unterschiedlich sein. Die ‘Bandbreite’ dieser Möglichkeiten könnte durch aero-dynamische Optimierung der Form des Körpers sicher auch genauer ausgelotet werden. Ohne eine detaillierte physikalische Erforschung dieser Verhältnisse gibt es natürlich kaum Möglichkeiten hier genauere Aussagen zu machen oder ein verifiziertes Optimum anzugeben; - und gleichermaßen gibt es bislang auch keine soliden Aussagen über die generellen Möglichkeiten der Klang-Optimierung dieses Klangwerkzeuges.
Aber es gibt wohl kaum ein anderes Musikinstrument, bei dem die Varianzbreite des möglichen Materials aus dem es beschaffen sein kann, so groß ist.
Ob aus Stein, Holz, Bein, Horn, Metall oder Kunststoff, aus Pappe, Leder oder Gummi usw., alles dies und noch mehr ist möglich, ohne daß die Funktionsfähigkeit des Instrumentes grundsätzlich fraglich oder im Prinzip beeinträchtigt würde.
Es wäre nun interessant zu untersuchen, welchen Ausschnitt, welche Bereiche, dieser großen Bandbreite von Material- und auch Formmöglichkeiten, die Schwirrhölzer bislang besetzt haben.
Die Frage steht hier nicht einfach nach den tatsächlichen Formen und Materialien - da gibt es aufgrund der hohen kulturellen Bedeutung des Schwirrholzes durchaus gründliche Antworten der Anthropologie, Volkskunde und Musikethnologie etc. - sondern nach der Position des faktisch empirisch Tatsächlichen, im tatsächlich Möglichen. Sowohl hinsichtlich der Möglichkeiten des Materials, als auch hinsichtlich des Menschenmöglichen, welches sich sowohl auf Herstellungs- als auch auf Handhabungs- und Gebrauchsmöglichkeiten bezieht. Eine derartige Fragestellung, die freilich auch aus bestimmten Vorstellungen und Wünschen darüber, welche Positionen hier wohl gehalten oder künftig erobert werden könnten, herrühren kann, wird - wenn einmal gestellt - dann vielleicht auch weiter an diesen rühren können...
Man könnte hier aber auch abwinken und mit der vielleicht näherliegenderen Frage kommen: Müssen wir dies wirklich wissen; lohnt sich ein solches Wissen bei einem heute so wenig attraktiven und inzwischen doch so bedeutungsarmen Instrument wie dem Schwirrholz?
Beide Fragestellungen, die erstere mutwillige und die unwilligere zweite, implizieren aber eigentlich eine gemeinsame, viel größere Frage: die Frage nach der Sinnhaftigkeit menschlichen Tun und Lassens überhaupt.
Mit welchen Fragestellungen handelt man sich nun mehr ein?
Auf unser Reflexionsobjekt Schwirrholz bezogen sind hier - in aller Mutwilligkeit - eine Menge weiterer, auch ganz unterschiedlicher Fragestellungen möglich.
Tendiert der Gang der Kultur- und Technikentwicklung eher dazu die Menschen zufällig gegebene bzw. naheliegend günstige Möglichkeiten einfach ergreifen zu lassen, sich in deren Ausnutzung dann frag- und traumlos einleben zu lassen, ohne daß er sich von den Fragen nach Sinn und Nutzen, nach dem Stellenwert des Eingelebten im eigentlich lebendig Möglichen, tatsächlich noch anrühren läßt? Tendiert sein zwar oft genug erschütterter, aber doch unnahbar anmutender Verlauf eigentlich eher dazu, sich traumwandlerisch selbstorganisiert zu verhalten - und im innersten unberührt von den generellen Fragen und Träumen die er selbst bei den Menschen hervorruft, zu verbleiben, - oder sind es doch vor allem die in sinnsuchender Auseinandersetzung erfolgenden Antworten auf grundsätzliche Fragen, welche seinen bisherigen Verlauf gestaltet haben...?
Hinsichtlich einer solchen, ‘en gros’ gestellten Alternativfrage handelt man sich, wenn sie tatsächlich so generell gefaßt wird, möglicherweise eine glatte Unbeantwortbarkeit und viel kritische Bedenklichkeit zur vorgestellten Alternative ein.
Weniger generalisierend, und z.B. konkret auf das Schwirrholz bezogen, würde ich aber dazu neigen, hier eher eine zustimmende Antwort im Sinne des ersten Teils der Alternativfrage zu geben.
Es sind keineswegs die wohlüberlegten Fragen und auch nicht die richtigen Antworten oder die weisen Erkenntnisse, und auch nicht hoffnungsvoll angestrebte Traumvorstellungen, die den Verlauf der Geschichte dieses Instrumentes kennzeichnen.
Diese mutwillige Antwort ist freilich zugleich eine traurige.
Die in der Doppelfrage einleitend geschilderte Situation ist weitaus kennzeichnender für seine bisherige und vielleicht auch künftige Geschichte, als die genannte Alternative.
Dies mag sich nun zwar leicht aus einer Spezifik des Schwirrholzes deuten lassen, da dieses Instrument sich - wiederum in ziemlich rekordverdächtigem Unterschied zu anderen Musik-instrumenten - in den letzten Jahrtausenden kaum wesentlich weiterentwickelt hat.
Aber so einfach läßt sich die Problemfrage doch nicht verabschieden, denn über viele andere Gegenstände der Technik- und Kulturentwicklung, ja über ganze Bereiche, welche in der Geschichte eine exellente Entwicklung mit wesentlichen Veränderungen erfahren haben, läßt sich in vielerlei Hinsicht Ähnliches bedenken, wie bei der vergleichenden Analyse des Schwirrholzes...
Erinnert sei nur nebenbei wieder an das Lineal - ein höchst rationelles Werkzeug menschlicher Kultur- und Technikentwicklung; wie man meinen sollte.
Aber wer, bitteschön, macht da eigentlich an die Stelle der Löcher immer noch die magischen Kreiszeichen auf moderne Exemplare und, um Gotteswillen, warum eigentlich?

*
Ich habe in Bezug auf das Instrument hier zunächst vor allem den ‘Schwirrholz-Körper’ betrachtet, und andere Teile und Aspekte des ganzen Gerätes weniger reflektiert.
Die Betrachtung des Instrumentes verblieb sozusagen an der Peripherie seines Wirkkreises.
Um aber das ganze Instrument mit seinen Wirkungen besser zu verstehen, muß in der weiteren Analyse diese bewegte Kreisbahn auch immer wieder verlassen werden. Nach innen, wo im Radius die Schnur des Schwirrholzes, und im Mittelpunkt der energiespendende Spieler betrachtet werden muß, und nach außen, wo die Wirkung des vom Instrument abgegebenen Schalles, sowie andere Wirkungen der ganzen Flachkörper-Schnur-Kombination - auch solche außerhalb ihrer unmittelbaren Existenz als aktives Schwirrholz - zu bedenken sind.
Um aber sein Wesen als Musikinstrument besser herauszustellen, macht es sich doch erforderlich auch auf das Gesamtsystem der Musikinstrumente (hier zunächst die Gesamtheit der ‘natürlich-akustischen’ Musikinstrumente) näher einzugehen und seine dortige Position zu umreißen, wobei eine solche ‘systemabhängige’ Positionsbestimmung, dann sicherlich auch methodologische Positionierungen innerhalb des weiteren Forschungsweges nach sich ziehen werden.
Eine grundlegende Konzequenz für die Systematisierung der Gesamtheit der Musikinstru-mente ergibt sich bereits aus den Überlegungen zu einem genaueren akustisch-physikalischen Verständnis des Schwirrholzes.
Es ist einer bestimmten Minderheit von Musikinstrumenten zuzurechnen.
Diese Minderheit ist nun genauer zu bestimmen und empirisch zu belegen.
Aus den bisherigen Betrachtungen ergeben sich aber auch Konsequenzen für die detailliertere Systematisierung der Mehrheit.
Dies soll nun zunächst als Grundriß vorgestellt werden, und muß im weiteren natürlich auch im Detail näher begründet, in Einzelheiten analysiert, und nach verschiedenen Seiten hin ausgebaut werden. Aber auch in zunächst ‘unausgebauter Form’ wird diese Grundriß-Orientierung wohl eine wichtige methodologische Voraussetzung für die weiteren Forschungen zum ‘Spezialfall Schwirrholz’ sein.
*
Ausgehend vom physikalischen Vorgang der Schallerzeugung, kann die Gesamtheit der akustisch-natürlichen Musikinstrumente in eine kleine Minderheit, deren Vertreter keine eigene, das Medium Luft erst mittelbar und sekundär zum Schall-Schwingen anregende Substanz nutzen, und eine beherrschend große Mehrheit, für deren Funktionsweise als Schallgenerator eben gerade die Verfügung über eine oder mehrere solcher Substanzen wesentlich ist, unterschieden werden.
Insofern ergeben sich aus den jeweils instrumentenspezifischen Nutzungen derartiger primär-oszillationserzeugender Substanzen, wesentliche Problemstellungen für das Verständnis der Entstehung und Entwicklung entsprechender musikinstrumenteller Konstruktionen.
Die genannte Minderheit von Musikinstrumenten ist von derartigen Konstruktions-Problemstellungen zumeist weniger betroffen und läßt sich insofern - aber eben auch auf Grund ihrer Geringzahl - relativ einfach auflisten, wobei hier, im Rahmen dieses Grundrisses, auch problemlos die Möglichkeit genutzt werden kann sogleich wesentliche Repräsentanten aufzuführen.
Ganz anders sieht es in dieser Hinsicht bei der Mehrheit von Musikinstrumenten aus.
Es werden insofern dort jeweils nur solche Vertreter aufgeführt bei denen die Sachlage hinsichtlich der genutzten, Schwingungen abgebenden, Substanz, hinreichend überschaubar ist; - und auch diese genannten Vertreter werden hier keineswegs immer die Rolle hervorragender Repräsentanten zu spielen haben, sondern vielmehr den Charakter grundlegender Beispiele tragen. Folglich wird auch die große Menge der Musikinstrumente, die wesentlich durch eine kombinierte Nutzung solcher Substanzen gekennzeichnet werden muß, zunächst nicht im Detail untergliedert oder aufgelistet vorgeführt. Sie muß im Weiteren vergleichend analysiert und spezifisch systematisiert werden.
*
Von der charakterisierten Minderheit werden im wesentlichen folgende Schallereignisse hervorgebracht:
*
Diese Auffassung zum System der Musikinstrumente ist nun ganz grundsätzlich von dem unterschieden was uns die Musikwissenschaft dazu seit etwa hundert Jahren sagt. Seit vielen Jahrzehnten hat sie sich offenbar weitgehend darauf geeinigt ganz anders zu klassifizieren. Die zunächst von dem Belgier Mahillion vorgeschlagene Vierklasseneinteilung in Luftklinger, Selbstklinger, Membranklinger und Saitenklinger, wurde 1914 in Deutschland von Sachs & Hornbostel übernommen, und in verfeinerter Auflistung des bekannten Instrumentariums als "Systematik der Musikinstrumente / Ein Versuch" vorgestellt. Diese Systematik - die ich für einen durchaus mißglückten Versuch halte - hat sich jedoch inzwischen international etabliert. So betont beispielsweise der Herausgeber des Handbuchs der europäischen Volksmusik-instrumente, E.Stockmann 1986 in einer Würdigung der wissenschaftlichen Leistungen von E.v.Hornbostel (wobei er als "klassische" Hauptleistung gerade diesen Systematisierungs-versuch hervorhebt) vor allem, daß sich diese Systematik als Verständigungsbasis der Musikinstrumentenkunde bewährt habe und schreibt dazu: "Lediglich das von Hans Heinz Dräger in seinem ‘Prinzip einer Systematik der Musikinstrumente’ (1948) vorgeschlagene Klassifikationssystem, das die von Hornbostel und Sachs vorgenommene Grundordnung der Musikinstrumente beibehält, aber um wesentliche Fragen erweitert, fand allgemeine Anerkennung. So haben wir den in den Gesellschaftswissenschaften höchst seltenen Fall zu verzeichnen, daß die Ergebnisse einer vor siebzig Jahren vorgelegten Arbeit in ihrer Substanz bis heute uneingeschränkt Geltung besitzen und die Grundlage auch neuerer Untersuchungen bilden."
Gerade Dräger wurde jedoch beispielsweise von H.Heyde, der mit seinen 1975 erschienenen "Grundlagen des natürlichen Systems der Musikinstrumente" wohl als erster den umfassenden Versuch einer ganz anderen, gerade auch die Entwicklung von Musikinstrumenten erfassenden, Systematik unternahm, wiederum kritisch behandelt. Durchaus zu recht wie ich meine, auch wenn ich wiederum zur Systematik von Heyde ausgesprochen kritisch stehe. Diese ist jedoch bislang leider kaum in die wissenschaftliche Diskussion genommen worden.
Um so befremdlicher muß dann aber eine Argumentation - wie hier von E.Stockmann - wirken, welche hinsichtlich der Systematik von Sachs & Hornbostel Bewährtheit konstatiert, ohne eine eingehendere wissenschaftliche Bewertung vorzunehmen, und welche die ‘uneingeschränkte Geltung von Ergebnissen’ lobt, ohne sich dabei zur wissenschaftlichen Gültigkeit von Erkenntnissen oder zum Erkenntnisgewinn bzw. zum Wahrheitsgehalt von Konzeptionen eingehender zu äußern. Hier wird sich, angesichts der historischen Bedeutung einer inzwischen fest institutionalisierten Verständigungsfestlegung einer speziellen Wissenschaft, der Frage, inwieweit damit auch eine Basis für das wissenschaftliche Verständnis der von dieser Disziplin zu bearbeitenden Untersuchungsobjekte gegeben ist, gar nicht mehr gestellt.
Ich denke aber, daß gerade derartige Differenzierungen für ein genaueres Verständnis der Wissenschaftsgeschichte grundlegend sind.
Es macht eben einen Unterschied ob man hier (und also auch in der eigenen wissenschaftlichen Arbeit) nur die Partei erfolgreich institutionalisierter Konzeptionen ergreift, oder eher einen Blick entfaltet der mehr nach wesensergreifenden Fragestellungen und erkenntnisgewinnenden Antworten sucht, um so auch, unabhängig von anzuerkennender Bewährtheit disziplingebundener Verständigungsmittel, mehr die Problematik methodischer Mittel der Verständnisvertiefung für den Untersuchungsgegenstand einer Disziplin zu bedenken.
Um an einem vielleicht wieder sehr mutwilligen Beispiel zu unterstreichen was ich hier meine, möchte ich folgenden aktuellen Vergleich aus der Entwicklung der Biologie anführen.
In einer Rezension zum 1989 erschienenen Buch von W.F.Gutmann, "Die Evolution hydraulischer Konstruktionen" habe ich folgenden Passus zustimmend zitiert: "Sowohl die merkmalsbewertende Systematik wie die formenbeschreibende Morphologie stellen wohl-installierte wissenschaftliche Institutionen dar, die Vorstellungen festklopfen, die so angelegt sind, daß lebende Organisation und der konstruktiv bestimmte Wandel der lebenden Organisation nicht erklärt werden können. Die Methoden der Morphologie und Systematik mögen zur Erzeugung einer ordnenden Übersicht über die Lebewelt noch so bedeutsam sein, im Rahmen des Versuches Lebewesen zu erklären und ihre Entwicklung zu rekonstruieren, stellen sie absolut sichere Vorschriften für das Nichtverstehen, Erkenntnishindernisse par excellence dar."
Dies ist natürlich eine sehr zugespitzte Formulierung eines in der Fachwelt bedrängten Evolutionstheoretikers, die auf die Musikinstrumentenkunde nicht unmittelbar zu übertragen sein wird.
Sie impliziert trotzdem eine ganze Reihe von spezifischen Vergleichbarkeiten.
Ohne dies hier im Einzelnen ausführen zu können, möchte ich nur betonen, daß auch das System von Sachs und Hornbostel keineswegs eine geeignete Basis für ein eingehenderes Verständnis schallgenerierender Konstruktionen, bzw. musikinstrumenteller Technik und deren Entwicklung darstellt. Meiner Erfahrung nach gilt dies in besonders hohem Maße für die Problematik von Volksmusikinstrumenten, bzw. sogenannter ‘ethnischer Musikinstru-mente’.
Beim zunächst so schlicht anmutenden Schwirrholz ist dies ganz offensichtlich.
Es zeigt sich aber auch bei weiteren Musikinstrumenten, worauf ich beispielsweise in Untersuchungen zu Maultrommeln (die ich - gerade auch in Referenz zu den Arbeiten von W.F.Gutmann - gerne als ‘Archaeopteryx der Audioorganologie’ bezeichne) und zum sogenannten Waldteufel (einem besonders raffinierten und für die gängige Systematisierung eigentlich sehr widerspenstigen Volksmusikinstrument, welches zudem gerne mit dem Schwirrholz verwechselt wird), vor allem aber in Bezug auf Dudelsäcke und verschiedene andere Blasinstrumente (die ja von der Organologie unter den besonders wider-spruchsgeladenen und weitgehend fehlorientierenden Begriff der "Aerophone" subsumiert werden) hingewiesen habe.
Auf die wissenschaftsgeschichtliche Problematik möchte ich aber vor allem aus folgenden Gründen deutlich hinweisen:
Wir haben es hier mit einer besonderen, inzwischen offenbar in vielen Aspekten verfestigten Traditionslinie deutscher Wissenschaftsgeschichte zu tun. Und diese hat offenbar seit etwa vierzig Jahren eine besondere ostdeutsche Entwicklungslinie herausgebildet. Neben den genannten H.H.Dräger, H.Heyde und E.Stockmann wüßte ich hier keine westdeutschen Namen mit vergleichbarer Bedeutung zu nennen. Es geht also auch um eine spezifische Problematik der Wissenschaftsgeschichte der DDR.
Dabei kommt noch ein zweiter wichtiger Umstand hinzu den ich bereits angedeutet habe.
Bei der Herausgabe des Handbuchs der europäischen Volksmusikinstrumente steht ja nun, nachdem ein Band Ungarn, zwei Bände zur Tschechoslowakei und ein Band über die Schweiz, in der DDR erschienen sind, irgend wann auch einmal der Band Deutschland an.
Ich habe im ‘DDR-Nationalkomitee für Traditionelle Musik’(ICTM) natürlich stets die Meinung vertreten, daß dies nicht auf ewig verschoben werden kann und Deutschland dabei geschichtlich in einem Werk behandelt, also hier nicht oberflächlich in DDR und Westdeutsche Bundesrepublik getrennt werden sollte.
Dies wird ja nun vielleicht kein Problem mehr sein.
Aber höchst wichtig erscheint mir nun die Frage, ob auch dieser vorzubereitende Band wieder, wie die bisherigen, unter dem methodischen Vorzeichen der unkritischen Übernahme der Sachs-Hornbostelschen Systematik stehen wird.
In der kritischen Aufarbeitung einer bestimmten Linie der Wissenschaftsentwicklung wäre hier Gelegenheit, gerade bei diesem nun anstehenden Band über Deutschland, eine besondere Chance im Sinne des konzeptionellen Überdenkens zu nutzen.
Es gibt aber leider bislang zu derartigen Fragen der Audioorganologie keine, etwa mit der Biologie vergleichbare, Diskussion in der Musikwissenschaft.
Der analytisch-vergleichende Blick auf die Entwicklung und die Ergebnisse anderer Wissenschaften, und hier meine ich durchaus wieder in besonderem Maße die Biologie, könnte aber sicher von hohem Nutzen sein.
Diese Ansicht habe ich bereits in verschiedenen anderen Arbeiten und Vorträgen zu verdeutlichen versucht, und denke, daß ich mich auch bei den weiteren Forschungen zum Schwirrholz von solchen Überlegungen begleiten lassen werde.

*