Denke ich heute an Jack Mitchell...

(Ein Beitrag von B.H.J.Eichler)

Vorbemerkung:
Nach dem Tode von Jack Mitchell, bat mich seine Frau Renate Mitchell um einen schriftlichen Beitrag mit meinen Erinnerungen an ihn. Diese Bitte richtete sie später auch an eine Vielzahl weiterer seiner Freunde und Bekannten. Meinen nachstehenden Beitrag habe ich damals umgehend, also auch lange bevor Renate mir dann auch andere diesbezügliche Beiträge zeigte, verfasst und ihr zugeleitet.
Ich hatte damals - angesichts ihrer entsprechenden Aktivitäten und Beteuerungen - tatsächlich den Eindruck, dass es Ihr dabei um eine angemessene Form der Publikation dieser Beiträge geht.
Dieses Vorhaben ist dann aber - wohl auch im Zusammenhang mit einer zunehmenden Reihe von antikommunistisch motiviert-ablehnenden Haltungen zu Jack und zu einer derartigen Publikationsinitiative - offenbar nicht mehr zustande gekommen.
Ich möchte also nun meinen damaligen Beitrag im Internet veröffentlichen, und habe dies auch Gabriele Martin vorgeschlagen, welche sich hier - ebenso wie ich - als Mitglied von „Jack &Genossen“ und als Gründungesmitglied der Gruppe „Windbeutel“ äußert.

(Siehe dazu auch den Flyer der Gruppe „Windbeutel“ im Anhang)

* * *

Denke ich heute an Jack Mitchell, so wird aus vielen nachhaltigen Einzelerinnerungen immer wieder deutlich, welche tieferen Einflüsse doch insgesamt von seiner Persönlichkeit in der DDR ausgegangen sind.

Einige davon betreffen mich in besonderer Weise.

Wenn ich nun - ihm zu Ehren - auch über mich schreibe, so können die Proportionen ehrerbietend gedenkender Darstellung damit zwar zunächst etwas verschoben erscheinen, doch mit persönlich verbürgter Zeitzeugenschaft kann vielleicht auch ganz anderen Proportionsverschiebungen entgegengewirkt werden.

So lässt sich, vielleicht gerade in souverän verantworteter Subjektivität, etwas mehr Objektivität gegenüber den inzwischen oft würdelos banalisierenden und zeitengewendet deformierten Darstellungen (01) von bestimmten Entwicklungen, in denen Jack so engagiert wirksam war, ergänzend und widersprechend aufbauen.

Ich habe Jack bei gemeinsamen Auftritten verschiedener Ensembles der Humboldt-Universität zu den Weltfestspielen 1973 in Berlin kennen gelernt. Er sang mit seiner Studenten-Gruppe „Larkin“ und ich spielte Klarinette und Saxophon bei der Jazz-Formation „BEF“, hantierte aber außerdem mit rumänischem Dudelsack und amerikanischem Five String Banjo und versuchte gerade Quena, Thinwhistle und auch Bodrhan zu erlernen, die mir soeben bei Peruanern und Iren aufgefallen waren. Das interessierte Jack und ich interessierte mich für seine Gruppe und ihn. Er sprach davon, dass er vorhabe, außer den Larkins noch eine andere politische Folk-Gruppe aufzubauen und fragte, ob ich vielleicht Lust hätte, dabei mitzumachen. Ich war vor allem wegen der Möglichkeit, dabei verschiedene Volksinstrumente spielen zu können, sehr interessiert. Als er dann aber davon sprach, dabei auch mit einigen erfahrenen Mitgliedern aus dem Oktoberklub zusammenzuarbeiten, stieß mich das zunächst heftig ab, da ich gegenüber der damaligen FDJ-Singebewegung, zumal in Bezug auf den schon recht ausgeprägten Kult um den Oktoberklub, welcher damals bereits wie eine offizielle Kultur-Institution agierte, die allergrößte Skepsis und handfeste politische Abneigungen hegte. Ich fand es im Grunde genommen peinlich, und in vielen Details geradezu abstoßend, wie dort immer wieder umtriebig bühnenorganisierte revolutionäre Romantik und moralisierend belehrendes „Politisches Lied“ im Namen (oder moralisch eher auf Kosten?) der Arbeiterklasse betrieben wurde, ohne dass da Arbeiter selbst eine wirksame Rolle spielen konnten und ohne dass in dieser höhererseits wohlorganisiert-vorstrukturierten „Bewegung“ Arbeiter konzeptionell überhaupt ernsthaft einbezogen wurden. Zudem, und das stand für mich im gleichen Zusammenhang, war mir diese Singebewegung auch allzu oft in einer fatalen Mischung von kunst-elitären und demonstrativ volksliedfeindlichen Politliedaktivitäten sowie ganz bestimmten musikalischen Armseligkeiten, insbesondere auch instrumentaler Armut, begegnet, was mir nicht nur suspekt und musikantisch zuwider war, sondern oft auch einfach als lächerlich erschien. Ich war allerdings auch in besonderer Weise voreingenommen und mit bestimmten Erfahrungen „vorbelastet“.

In Thüringen hatte ich als Maschinenschlosser-Lehrling, und später als Facharbeiter, stets musiziert und auch immer wieder unter Kollegen und Bekannten auf interessante Musikanten treffen können. Ob im Lehrlingswohnheim, in der Betriebsberufsschule oder im Großbetrieb, überall war es letztlich möglich, entweder eine Band zu gründen oder sich einer sonstigen Musikantengruppe anzuschließen. Und selbstverständlich wurden da immer wieder auch Volkslieder gespielt und gesungen, und auf fast jeder Parteiversammlung, an der ich in der Berufsschule und später im Großbetrieb teilnahm, wurde abschließend gemeinsam ein Arbeiterlied gesungen. Ebenso begegneten mir später als Wehrpflichtiger bei der Armee viele handfeste Musikanten. So lernte ich damals auch erstmals sorbisches Brauch- und Musikantentum kennen, da unter den dort wohnhaften Berufssoldaten dieser in der Lausitz gelegenen Dienststelle auch sorbische Traditionalisten waren, denen es immer wieder gelang, alljährlich zur Osterzeit alle geeigneten Musikanten unter den Wehrpflichtigen zu erfassen und zum gemeinsamen „Zampern“ einen ganzen Tag lang vom Dienst freizustellen, so dass wir, zum Teil verkleidet in traditionellen Kostümen, dann tagsüber durch die umliegenden Dörfer und Fabriken zogen, reichlich mit Geld, Alkohol, Ostereiern, Selbstgebackenem usw. beschenkt wurden, um dann abends zum Tanz aufzuspielen. Und als ich später dann, auf der Planstelle eines Politoffiziers, die Kultur und FDJ-Arbeit des dortigen Bataillons zu leiten hatte, war es auch immer möglich, unter den Soldaten (im wesentlichen junge Arbeiter aus Thüringen und Sachsen), aber auch außerhalb dieser Kaserne, die verschiedenartigsten Musikanten für gemeinsames Aufspielen zu finden.

Damals lernte ich auch Perry Friedman kennen, der verschiedentlich in unserer Dienststelle auftrat, dort Volks- und Arbeiterlieder sang, und von dem ich damals ebenso beeindruckt war wie von verschiedenen Musikanten unter den Wehrpflichtigen.

Das eigentlich Interessanteste aber war dort, dass neben dem eher „offiziellen Marschgesang“ nicht nur immer wieder Volkslieder gesungen wurden, sondern es tauchten auch gänzlich „inoffizielle Lieder“ auf, bei denen es vor allem um Heimweh und den ersehnten Tag der Entlassung aus dem Militärdienst ging. Vor allen Entlassungen (die genau nach Tagen abzählbar, halbjährlich erfolgten) gingen auch jeweils entsprechende Lieder um, die von den Soldaten immer wieder mehr oder weniger heimlich gesungen, aktualisiert umgesungen und auch ständig ganz neu erfunden wurden und dann von den höheren militärischen Vorgesetzten auch so weit wie möglich unterbunden wurden - was freilich nie vollständig gelingen konnte. Ganz klar, dass es sich hier auch um Volkslieder handelte, die darüber hinaus mit einem umfassenden Netzwerk weiterer Folklore, wie bestimmten, höchst phantasievoll selbst hergestellten, aber nur zu besonderen Gelegenheiten heimlich getragenen „Entlassungskandidaten-Abzeichen“ bzw. “Phantom-Entlassungsorden“, stets neu erzählten dienststellenspezifischen Legenden, heftig gepflegten Bräuchen, ganz spezifischen Witzen und geheimnistuerisch gehandhabten Symbolen, aber auch von bestimmten älter-tradierten üblen Soldatenritualen, innerhalb und außerhalb des offiziellen Dienstes, umgeben waren.

Eine gänzlich andere Situation begegnete mir dann nach meiner Entlassung aus dem Militärdienst als ich mit einem Philosophiestudium an der Humboldt-Universität begonnen hatte. Dort waren die Verhältnisse natürlich feiner.

Nun erlebte ich jedoch - erstmals seit ich Musikinstrumente spielte -, dass es in meinem neuen Bekannten- bzw. Studien-Kollegenkreis eigentlich keinen einzigen Instrumentalisten gab, mit dem sich irgend etwas gemeinsames Musikantisches anstellen ließ. Aber selbstverständlich war bei den Philosophiestudenten, unter denen natürlich auch Mitglieder des frisch etablierten Oktoberklubs und besondere eingeweihte Anhänger der gerade prosperierenden FDJ-Singebewegung zu finden waren, ständig vom „wichtigen Singebeschluss des FDJ-Zentralrates“ (den ich freilich zumeist höhnisch als „Singebefehl“ bezeichnete - was alle verstanden) und von den „wichtigen politischen Aktivitäten des Oktoberklubs“ (den ich dann auch oft böswillig als „politischen Oktober-Fest-Klub“ bezeichnete - was nicht alle verstanden) die Rede, und ab und an wurde irgendwie verklemmt mit Gitarren umgegangen (immer wieder nur Gitarren....!). Und alsbald konnte einem dann Vieles von dem, was zuvor noch unter der eigenartigen Veranstaltungskombination von „Jazz und Lyrik“ betrieben worden war, nunmehr wieder unter dem Vorzeichen von „Lyrik und Politsong“ begegnen. Für mich kam hier freilich noch verschärfend hinzu, dass gerade die Anhänger dieser Singe- und Liedermacherbestrebungen vorwiegend für die Beatles schwärmten, wohingegen ich (wenn es schon - wie damals Mode geworden - englische Rock-Musik, und nicht mehr genuiner amerikanischer Rock’n Roll sein sollte) demgegenüber vielmehr die Rolling Stones gelten lassen wollte. Mit meinem damals offenbar pragmatisch fehlorientiertem „Politoffiziers-Verstand“ und voller damaligem „FDJ-Vertrauen“ wandte ich mich da sogar einmal hilfesuchend an die FDJ-Kreisleitung der Humboldt-Universität, ob nicht vielleicht doch irgendwo an anderen Fakultäten noch musizier-freudige Instrumentalisten zu finden sein könnten. Völlig zwecklos, - das war absolut die falsche Adresse. Bei der FDJ waren die Kulturexperten offenbar allzu sehr mit der Ausführung von Singebewegungsbefehlen befasst. Erst nach einiger Zeit begriff ich, dass man nur ins „Johanneum“ (Wohnheim der Theologiestudenten) zu gehen brauchte, um sofort Kontakt zu verschiedenen hochqualifizierten Musikanten finden zu können, dass einem aber auch bei Medizinern oder anderen Naturwissenschaftlern gute Musiker begegnen können. Mit diesen Fakultäten jazzte ich ja dann auch noch lange nach meinem Studium; - also auch zu den Weltfestspielen. Als ich dabei nun Jack traf, und später auch in der so wesentlich durch seine Persönlichkeit geprägten neuen Musikgruppe mitwirkte, hatte sich für mich wieder eine ganz andere musikantische Situation mit völlig neuen Möglichkeiten ergeben.

Zunächst stellte sich schnell heraus, dass Jack durchaus Verständnis für bestimmte meiner prinzipiellen Abneigungen gegen „Oktoberklub-Besonderheiten“ und verordnete Singebewegung hatte. In vielen Punkten waren wir da sofort gleicher Meinung und neigten zu ähnlichen Betrachtungsweisen. Und so konnte ich mich schon nach kurzer Zeit sehr gut in grundsätzlichen politischen Fragen mit ihm verstehen. Er hatte eine für mich klare kommunistische Haltung in Bezug auf Internationalismus, Arbeiterbewegung, Arbeiterklasse und Folklore und die schöpferischen Kräfte werktätiger Menschen und werktätiger Massen, und dabei auch ein sehr feines und stets witzgeladenes Verständnis für bestimmte objektive Beschränktheiten und geistige Borniertheiten der DDR, einschließlich der verschiedensten Tendenzen ihrer Singebewegung. Und dieser schottisch-irische Volkssänger war folglich auch völlig offen für eine Beschäftigung mit internationaler Folklore. Im Musikantenkollektiv von „Jack und Genossen“ hatte ich dann auch erstmals die Möglichkeit, die verschiedenartigsten Volksmusikinstrumente aus meiner Sammlung (für die sich zuweilen manche Jazzer und Rocker zwar auch schon interessiert hatten, die in diesen Szenen aber bestenfalls als periphär-exotischer Show-Zusatz dienen konnten) intensiv zu spielen, und - was mir eigentlich allergrößte Selbstverständlichkeit war - hier konnten auch deutsche Volkslieder gespielt werden. Und mit Jack konnte man beispielsweise auch darüber sprechen, dass es ganz zweifellos tief-hintergründige und wesentliche Zusammenhänge zwischen bestimmten Gedichten des Arbeitersängers Jo Hill und den Rolling Stones gibt (02) , ebenso wie man mit ihm sehr genau, und manchmal über einen langen Zeitraum hinweg , immer wieder bestimmte Liedtexte und die verschiedenartigsten Interpretationsmöglichkeiten bestimmter Lieder erwägen, beraten und gemeinsam gestalten konnte. Hier denke ich beispielsweise, außer an bewegte Steine, auf denen kein Moos ansetzen kann, sofort auch an keilförmig fliegende Kraniche, die den Gesetzen von Aerodynamik und phylogenetisch erworbenem Verhalten so schön gehorchen können - und an „Die Sache mit dem Koch“.(03) Und neben dieser, die sensibelsten Grundfragen des Leninismus berührenden Problemstellung, mit der wir uns gegen hochgelobte, hochlobend-poetische, aber übel trivialisierende Polit-Symbolisierungen in der Singbewegung wehrten (Symbolisierungen, die eigentlich eher faschistoid als tatsächlich sozialistisch waren), konnte man mit Jack auch über andere in der DDR-Singebewegung engsinnig-dogmatisch angelegte Auffassungen (deren Vertreter „ihre Tradition“ von Singebewegung und Liedschaffen beispielsweise immer wieder nur „in Brecht und Eisler begründet“ sehen wollten) (04) sprechen. So konnte man mit ihm auch in selbstverständlicher Weise Traditionsbegründungen mitbedenken, die (über eingrenzend-kurzgreifende „DDR-Konkret-Orientierungen“ hinaus ) vielleicht doch auch noch mit Wilhelm Müller und Franz Schubert und vielem, vielem Anderen zu tun haben könnten, um so auch die eben viel weiter zu fassenden deutschen und internationalen Traditionszusammenhänge von Liedentwicklungen bis hin zu Volks- und Arbeiterliedern vernünftiger und undogmatischer bedenken zu können. Ich gebe zu, dass ich dabei (ähnlich voreingenommen wie in Bezug auf die Rolling Stones) nun immer wieder den von mir geliebten Franzl Schubert mit seinen Liedern von Leuten, die auch kein Moos ansetzen konnten, hervorheben wollte, und muss dann auch gleich an „die Sache mit dem Krug zum grünen Kranze“ von Wilhelm Müller denken, bei der wir uns ebenfalls gegen trivialisierendes „Polit-Lied - Denken“, dann aber auch gegen bestimmte Polit-abstinente Folkloreauffassungen wehren mussten. (05)

In einer derartigen, durch Jack immer wieder stimulierten Atmosphäre von Auseinander- und Zusammensetzen entstand auch schon bald (allerdings eben auch erst nach vielen, zum Teil sehr intensiven Diskussionen in der Gruppe) eine ganz bestimmte konzeptionelle Richtung von Jack & Genossen, die sich schließlich von anderen Gruppen und Tendenzen innerhalb der DDR-Singebewegung deutlich unterschied.

Ich meine nun, dass es sich für ein wahrhaftes, wahrhaftiges Verständnis seines Wirkens, aber gewiss auch für ein eingehenderes Verständnis der durch Singeklubs und Liedermacher gekennzeichneten Bewegung, in der er gewirkt hat, lohnt (vielleicht auch erforderlich macht?), gerade hier etwas genauer hinzuschauen und diese konzeptionellen Besonderheiten sowie entsprechende damalige (vielleicht auch noch heutige?) Parteiungen zu beachten, diese vielleicht auch erneut zu analysieren und ihre Entstehungen und Auswirkungen zu bedenken.

Das ist natürlich nur eine ziemlich abstrakte These, die durchaus belanglos bleiben wird, solange sie nicht auf Interessen trifft, die auch in analytische Aktivitäten umgesetzt werden können.

Im Sinne einer hier durchaus möglichen Konkretisierung möchte ich ein charakteristisches Statement von Jack & Genossen aus dem Jahre 1974 herausgreifen.(06) Hier formulierte die Gruppe in bewusst polemischer Weise bestimmte Fragen, Problemsichten, Vorhaben und Hoffnungen, wobei sich folgende Schwerpunkte ergaben:

Wie ist es eigentlich um das konkrete Verhältnis von Singebewegung und Arbeiterbewegung, insbesondere auch in Hinsicht auf die Arbeiterklasse in der DDR, bestellt? (07)

Was halten wir in diesem Zusammenhang eigentlich von internationaler Folklore, insbesondere aber auch vom deutschen Volkslied?

Und speziell hervorgehoben wurde dabei auch der wegen Devisenmangels leider nicht zu verwirklichende „größte Traum“ der ganzen Gruppe, der Wunsch nämlich, vielleicht neben anderen Volksinstrumenten doch auch einmal mit einem original irischen Dudelsack wirken zu können.

Drei scheinbar ganz unterschiedliche Problembereiche, die sich auf bestimmte Menschengruppen, bestimmte Gruppen von Liedern und bestimmte Musikinstrumente beziehen, - dabei aber durchaus wesentliche Problemkonstellationen und Entwicklungstendenzen innerhalb und außerhalb der Singebewegung betreffen. Es handelt sich hier zweifellos auch um grundsätzliche Probleme für das Verständnis der nun vergangenen Geschichte der DDR-Singebewegung, wobei gerade die mit diesen Problemen so eng verbundenen Aktivitäten von Jack Mitchell für ein solches Verständnis wesentlich sind. Sobald derartige Probleme in geschichtlicher Aufarbeitung ernst genommen werden, wird man an seiner Persönlichkeit nicht vorbeikommen, so wie man andererseits an diesen Problemstellungen nicht vorbeikommen wird, sobald man sich ernsthaft und eingehender mit seiner Persönlichkeit und seinen Aktivitäten befasst; - und insofern wird das kulturpolitische Engagement dieses kommunistischen Sängers und Liederdichters freilich auch künftig für manchen eine durchaus unbequeme und vielleicht lieber zu umgehende Angelegenheit bleiben.

Die führenden Funktionäre und Aktivisten der DDR-Singebewegung sind sowohl im Allgemeinen, als auch in Bezug auf ihre speziellen Beziehungen innerhalb der Singebewegung meist nicht durch eine besondere Nähe zur Arbeiterklasse oder durch viele persönliche Beziehungen zu Arbeitern sozialisiert worden, und Arbeiter wurden wohl auch nur in sehr beschränktem Maße durch die Singebewegung sozialisiert - diese spezielle Einrichtung des DDR-Kulturbetriebes konzentrierte sich letztlich doch auf Schüler, Studenten und bestimmte Intellektuelle. Und obwohl diese Singebewegung in ihren Anfängen zweifellos auch mit internationalistischem Volksliedsingen, einschließlich deutschen Volksliedern, zu tun hatte, hat sie sich in diesem Punkte alsbald eine oftmals ziemlich borniert-distanzierende Haltung zugelegt.

Durchaus anders war dies jedoch in dem musikantischen Spannungsfeld, welches sich um Jack entwickelte. So kann ich mich gut entsinnen, dass einige mir damals näher bekannte Musikanten, die sich bei der Gruppe Larkin mit schottischen und irischen Liedern befasst hatten (z.B. H.Eggebrecht, I.Wetzger, F.Schulze, S.Ploog, - alles Folkloristen, die später auch verschiedene neue Folk-Gruppen gründeten), schon begannen, sich außer mit internationaler Folklore auch intensiver mit „deutsch Folk“ zu befassen, als andere Neofolkloristen außerhalb der Singebewegung noch auf die irische Folklore-Welle fixiert waren.

Jack & Genossen waren dann auch die ersten, und über Jahre hinweg die einzigen, die auf dem jährlich in Berlin stattfindendem „Festival des politischen Liedes“ immer wieder durchgesetzt haben, im Zusammenhang mit internationaler Folklore auch deutsche Volkslieder singen zu können, wobei uns vor allem bestimmte Soldaten- und Wanderlieder (deren spezifische Vielfalt innerhalb deutscher Folklore uns besonders aufschlussreich erschien) wichtig waren. Und Jack hat dies - auch außerhalb solch renommierter Anlässe - stets mit einer wohlüberlegten politischen Konzeption getan. Dabei kann es hochinteressant sein, genauer zu analysieren, in welcher Weise Jack, als weithin bekannter und vorzüglicher Sänger, damit einerseits natürlich Erfolg hatte, andererseits aber, sowohl innerhalb des eingefahrenen „Organisations-Apparates“ der Singeszene, als auch außerhalb der Singebewegung (etwa im Zusammenhang mit den sich erst später analog etablierenden Organisationsstrukturen der neofolkloristischen Szene) auf sehr diffizile Formen von Distanz und spätere auch deutliche Ignoranz gestoßen ist.

Was nun den „größten Traum von Jack & Genossen“ betrifft, so bin ich in besonderer Weise involviert: Zwar ist es mir auch bis heute (nunmehr letztlich aus den gleichen Gründen wie damals) nicht geglückt einen „original irischen Dudelsack“ zu bekommen (geschweige denn zu erlernen), aber bei Jack & Genossen hatte ich sofort die Möglichkeit rumänischen, bulgarischen und französischen Dudelsack (08) und dann auch erste selbst zusammengebastelte Schalmeien- und Dudelsackinstrumente (09) zu spielen, und konnte damit bald bei vielen Auftritten in der ganzen DDR, aber beispielsweise auch während einer Tournee der Gruppe in die CSSR (1974) bestimmte Erfahrungen sammeln und so im Laufe mehrer Jahre auch viele Leute kennenlernen, die sich gerade für Dudelsäcke und Schalmeien besonders interessierten. Später spielte ich auch schottischen Dudelsack, nachdem Jack solche Instrumente ganz unterschiedlich engagierten Musikern besorgt hatte. Innerhalb solcher Aktivitäten aus dem Umfeld von Jack entwickelte sich dann auch eine weitere spezielle Dudelsackgruppe, die 1978 beim internationalen Dudelsackfestival in Strakonice / CSSR erstmals mit deutscher Dudelsackmusik und selbstgebautem Instrumentarium auftrat und auch später wiederholt mit verschiedenen weiteren, selbstgebauten deutschen Dudelsäcken an diesem und anderen internationalen Dudelsackfestivals teilnahm. Aus dem gleichen Umfeld heraus ist dann auch 1979 die „Deutsche Dudelsackbrüderschaft der DDR“ von mir gegründet worden, und es entwickelte sich alsbald eine über die gesamte DDR verbreitete Bewegung zum Spiel und zur Selbstherstellung verschiedener Dudelsäcke, so dass ein knappes Jahrzehnt später eine von mir konzipierte und über Jahre vorbereitete, umfassende Dudelsackausstellung mit den verschiedensten in der DDR von vielen Dudelsackspielern selbstgebauten Instrumenten (Bautzen 1988) eingerichtet werden konnte. Mit selbsthergestellten Dudelsack-Rekonstruktionen aus alt-deutscher Tradition (d.h. dem „Hümmelchen“ und der „Schaperpfeiff“, die es zuvor in der DDR nicht gab) (10) konnte ich auch in vielen Aufführungen der Sinfonie D-Dur (Die Bauernhochzeit) von Leopold Mozart in einem Sinfonieorchester in Brandenburg mitwirken und später auch den Dudelsackpart in der Uraufführung einer zeitgenössischen Komposition (Konzert für Viola von Prof. A. Maatz ) mit dem Gewandhausorchester in Leipzig (1988) spielen. Und bis heute ist die praktische und theoretische Beschäftigung mit diesen und anderen Volksinstrumenten wesentlich für meine wissenschaftlichen Arbeiten zu philosophischen Problemen audioorganologischer Evolution und zur Vergleichsanalytischen Audioorganologie geblieben (11)

Man kann nun leicht sagen, dass dies doch alles aber mit Jack Mitchell eigentlich nichts mehr zu tun habe...

Ich kann das nicht sagen.

Sobald ich derartige Entwicklungen konkret bedenke und mich detaillierter entsinne, wird deutlich, dass diese und andere bis in die Gegenwart reichenden Entwicklungen eben auch ganz wesentlich in der Begegnung mit dieser ganz besonderen „Singegruppe Larkin“ begründet waren, und dann über Jahre hinweg immer wieder in verschiedener Weise auch durch die Aktivitäten von Jack Mitchell beeinflusst wurden.

Sowohl in bestimmten Liedern, die ich oft mit ihm gespielt habe und von denen ich viele heute immer noch immer wieder spiele, als auch in bestimmten gegenwärtigen Kämpfen und Auseinandersetzungen, in denen auch Problemstellungen von Jack & Genossen immer wieder mit anklingen, ist mir - auch nach seinem Tode - Jack lebendig.


*
Anmerkungen/Quellen:
(01)
Siehe dazu beispielsweise die Darstellungen von Horst Traut (Wir bauen all an einem Turm/Volkslieder von gestern und heute; Köln 1995) und Lutz Kirchenwitz (Folk, Chanson und Liedermacher in der DDR / Chronisten, Kritiker, Kaisergeburtstagssänger; Berlin 1993)
(02)
Ich zitierte einmal in einer Diskussion mit Jack, eine mir in Erinnerung gebliebene Refrain-Zeile aus dem wohl letztem Gedicht von Joe Hill, welches er noch vor seiner Hinrichtung im Gefängnis geschrieben hatte: „Ther is no Moss on the Rolling Stone“ - und Jack konnte sofort fast das gesamte Gedicht dazu aufsagen.
(03)
Siehe dazu die entsprechenden Lieder von Kurt Demmler „Die Kraniche fliegen im Keil“ und Jack Mitchell „Es lebe der Koch“.
(04)
Rump: „Das Q im Lied“, in: Forum Nr.6/1975, S.6, aber auch die weiteren Diskussionen dazu in „Junge Welt“, „Singe“, “Forum“ usw.
(05)
Siehe dazu auch die Positionen von Jack und Genossen in den Beiträgen von Jack Mitchell und Bernd Eichler in: Brauchen wir Volkslieder?, in: Liedersprüche: 8. Festival des politischen Liedes 1978, Gespräche, Texte, Protokolle; hrsg. Von Regina Scheer, Berlin 1979
(06)
Siehe dazu die Zeitschrift „Singe“, Ausgabe von 1974
(07)
Siehe dazu auch die Position von Jack & Genossen in der unter Fußnote Nr.3 zitierten Diskussion.
(08)
Dass ich damals in der DDR eine originale französische Cabrett erwerben konnte, verdanke ich der Vermittlung meines Freundes Helmut Eggebrecht.
(09)
Eines dieser ersten, aus Bambusröhren selbst gebastelten Dudelsackinstrumente wurde (neben einer Vielzahl weiterer Musikinstrumente aus meiner Musikinstrumentensammlung) 1979 in der Sonder-Ausstellung „Volksmusik und Volksmusikanten“ im Pergamon-Museum in Berlin ausgestellt und nach Beendigung dieser Exposition vom Musikinstrumentenmuseum der Karl-Marx-Universität in Leipzig dokumentiert.
(10)
Siehe dazu: Bernd Eichler, „Das Hümmelchen - ein altdeutscher Dudelsack“, Leipzig 1990:
(11)
Siehe dazu: Internet www.bhje.de

*

Ein Beitrag zu Jack Mitchell von Gabriele Martin:

Wir begegneten uns das letzte mal auf einer Straße im Prenzlauer Berg, Jahre nachdem sich die Gruppe „Jack & Genossen“ unter Unstimmigkeiten aufgelöst hatte.

Darum war ich eigentlich versucht ihm auszuweichen oder ihn „nicht zu sehen“. Er kam aber unausweichlich offen und, wie es mir schien, fast erfreut auf mich zu, fragte wie es mir und den Kindern ginge und was der Eichler macht, beantwortete mir meine Fragen nach seinen Musikprojekten und seinen Aussichten wegen des Augenlichts. Er ließ mich in Verwunderung und mit einem unfreiwilligen Lächeln der Erleichterung zurück.

Kennengelernt hatte ich Jack bei Proben der Gruppe „Jack & Genossen“, die in der Wohnung von Bernd Eichler stattfanden. Von dem Trend der 60er - Jahre Platten des Vielvölkerstaates Sowjetunion mit internationaler Musik inspiriert, durch vielfältige Kontakte zu Lateinamerikanern, Russen, Ungarn, Polen, Vietnamesen und Deutschen wie ich eine bin, beschenkt, hatte ich ein umfangreiches Lied-Repertoire angesammelt. Jack war ein weiterer solcher Kontakt für mich. Er, der „große irisch-schottische Volkssänger“, hätte es sich leisten können, nur in den Liedern seiner Heimat zu schwelgen, um genügend bewundernden Beifall ausländerverklärenden DDR-Publikums zu erheischen. Vielleicht hängt es mit seiner eingangs geschilderten Offenheit zusammen, oder mit seinem Verständnis von Internationalismus: da er selbst sich auf Lieder anderer Völker einließ, hatten wir sofort eine gemeinsame Basis.

Dies ist für mich, zusammen mit der Tatsache, dass es ihm zum großen Teil um politische Lieder ging, aus heutiger Sicht schon ein erstaunlicher Fakt. Jack hat, aus einer Wirklichkeit kommend, ähnlich der, in welcher wir jetzt leben, internationale politische Lieder gesungen. Ich ahne heute erst, was das bedeutet haben muss, und Jack hat dafür meine Hochachtung im Nachhinein, auch wenn er in den DDR-Verhältnissen wohl eine sichere Nische vorfand.

In gewisser Weise war er, glaube ich, nicht frei von Eitelkeit und Angeberei - ein Grund um manchmal über ihn zu schmunzeln oder sich zu ärgern. Da er vieles nicht so verbissen ernst sah, lernte ich an seinem Beispiel, was englischer Humor sein muss. Verbissen bin i c h gewesen, als ich ihm seine - aus meiner Sicht - selbstherrliche Entscheidung (über die Köpfe der Gruppenmitglieder hinweg) verübelte. Ich konnte damals nicht so souverän damit umgehen wie ich das heute wohl könnte.

Als ich ihn das letzte Mal sah, hat er sich und mir das alles, ohne es auszusprechen vergeben - oder er hat es nicht so ernst genommen, was auf das Gleiche herauskommt.

 

Gabi Martin, 19.4.2001

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