Die Maultrommel als Gegenstand des Musikunterrichts - Systematisches Musikinstrumentenverständnis und ‘fremde Musik’
(ca. 1996 entstanden; ursprünglich eingereicht an die Redaktion der Zeitschrift ‘Musik in der Schule’)
Multikulturelle Entwicklungen und bestimmte Tendenzen musikkultureller Internationalisierung erfordern gerade auch im Musikunterricht gezielt und verstärkt mit Klangbeispielen aus fernen, fremden Kulturen zu arbeiten, diese eingehender zu erklären und mehr Verständnis dafür zu entwickeln.
Solche Forderungen begegnen mir vor allem seitens gesellschaftlich engagierter Musikethnologen.
Ich bin jedoch sehr skeptisch über den Erfolg solcher, in ihren Intentionen sicher berechtigter, Forderungen, wenn dies nicht auch mit einem soliden und systematisch begründeten Wissen über spezifische Musikinstrumente entsprechender Kulturen, sowie bestimmter grundsätzlicher Probleme der historischen Entwicklung von musikinstrumenteller Technik überhaupt, verbunden werden kann.
Zumindest würde ich aber gerade in einer solchen Verbindung von Klangbeispielen und entsprechend ergänzenden Erklärungen und Erfahrungen zu Instrumenten, besondere Chancen des Musikunterrichts sehen, weil sich damit ein sicherer Weg der Kenntnis- und Verständnis- Vermittlung auftut, auf dem dann auch weitere Bezüge und Querverbindungen zwischen den verschiedensten Kulturen - bis hin zur eigenen Kultur - besser verdeutlicht werden können.
Zudem wird in einer derartigen Verbindung, der Erfolg solcher Bemühungen nicht nur von bestimmten singulären, und im Schulunterricht natürlich letztlich nur spärlich zu vermittelnden, exotischen Klangerlebnissen abhängig gemacht, sondern kann gegebenenfalls auch weitere, über das Klangereignis weit hinaus reichende Erlebnisse vermitteln, bei denen dann auch das eigene Handeln der Beteiligten, sowie aktives Aufwerfen weiterer Problemfragen, weitaus mehr angeregt werden kann, als beim eher bloßen Anhören von fremden Klängen und Erklärungen.
Es ergeben sich damit außerdem wichtige Möglichkeiten der Vermittlung fächerübergreifender Wissens- und Denkstoffe.
Die Entstehung und Entwicklung von Musikinstrumenten ist - von den ersten Anfängen frühmenschlicher instrumentaler Tonerzeugung bis in die Gegenwart - ein besonderer, in spezifischer Weise humanisierter Bereich menschlicher Werkzeug- und Technikentwicklung, der, nimmt man ihn ernster, nicht nur ein besseres Verständnis der Gesamtheit menschlicher Technik vermittelt, sondern auch zu mehr Besinnlichkeit und fragender Nachdenklichkeit über den Wert und Sinn menschlichen Tun und Lassens überhaupt anregen kann.
Und vielleicht ist zuweilen auch erst damit wirklich sinnvolles Vermitteln von Inhalt und Wert ferner und vielleicht auch fremd anmutender Musik möglich.
Die Vermittlung solcher Werte und solchen Wissens, steht aber wiederum in engem Zusammenhang mit einem Grundverständnis des Gesamtsystems der Musikinstrumente, wie es die Menschheit innerhalb der verschiedensten Kulturen hervorgebracht hat.
Hier stellt sich nun auch die Frage nach dem Charakter der wissenschaftlichen Konzeptionen, die Übersicht schaffend und systematisierend mit dieser Gesamtheit musikinstrumenteller Technik befaßt sind.
Wie ist in diesem Zusammenhang die gegenwärtig in der Musikwissenschaft offenbar weitgehend akzeptierte, oder zumindest doch als Übersichtstabelle bzw. auch als Bestimmungstafel benutzte, "Systematik der Musikinstrumente" von Curt Sachs und Erich von Hornbostel, welche 1914 zunächst als "Ein Versuch" vorgestellt wurde und die, bereits 1888 von dem Belgier Victor Mahillon eingeführte, Vierklassenteilung in Selbstklinger, Membranklinger, Saitenklinger und Luftklinger fortführte, angesichts des heutigen Erkenntnisstandes zu bewerten? (1)
Wie ist diese Systematisierung für die hier anstehende Problematik der Vermittlung des Zugangs zu fremden Musikkulturen einzuschätzen und welchen Wert hat sie, wenn es um ein besseres Verständnis der Bedeutung bestimmter Musikinstrumente innerhalb weltweiter oder auch spezifisch regionaler Kulturentwicklungen geht?
Um es - ebenso wie bei der zuerst genannten Problematik - gleich von vornherein deutlich zu sagen: Aus der Sicht meines Fachgebietes, der Vergleichsanalytischen Organologie, (2) halte ich diese Systematisierung, die auch als Basis von musikinstrumentenkundlichem Lehrstoff gilt, in vielerlei Hinsicht für verfehlt und unlogisch, und gerade auch in Bezug auf das hier anstehende Problem für durchaus desorientierend.
Bestimmte Tendenzen der Verteidigung dieser Systematisierung geraten zudem, gerade da wo bestimmte Entwicklungsprobleme musikinstrumenteller Technik nicht beachtet und auch neuere wissenschaftliche Diskussionen und Erkenntnisse zur systematischen Position bestimmter Musikinstrumente inhaltlich nicht zur Kenntnis genommen werden, in ein dogmatisches Fahrwasser, in welchem dann vor allem auf der ‘Bewährtheit’ dieser Systematik beharrt, aber nicht mehr inhaltlich argumentiert wird.
Und dies kann sich eben auch verheerend auswirken, wenn es um das eingehendere Verständnis bestimmter Musikinstrumente der sogenannten ‘Fremdkulturen’ geht, die ja, gerade aus europäischer Sicht, oft als unentwickelte Vorformen modernerer Instrumente angesehen werden, oder eben einfach nur als primitiv gelten.
Gerade am Beispiel der scheinbar so einfachen Maultrommel kann aber eine ganz andere Sicht zum Verhältnis von ‘Fremdkultur’ und ‘eigener Kultur’ entwickelt werden, wobei die nähere Beschäftigung mit diesem Instrument dann auch helfen kann bestimmte systembildende Zusammenhänge innerhalb musikinstrumenteller Technikentwicklung zu verdeutlichen.(3)
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Ich könnte mir gut vorstellen, daß eines der vier Konzerte die Johann Georg Albrechtsberger (einer der Kompositionslehrer Ludwig van Beethovens) für Maultrommel, Mandora und Streicher geschrieben hat, als ein einführendes Klangbeispiel für den Unterricht verwendet werden kann, um dann auch als ein Ausgangspunkt für weiterführende Klangbeispiele aus anderen Kulturen genutzt zu werden.
In der Vorbereitung auf solche Unterrichtsstunden sollten aber unbedingt auch verschiedene Maultrommelinstrumente besorgt werden.
Am einfachsten sind in der Regel die Metallinstrumente europäischer (speziell deutscher und österreichischer Tradition) zu beschaffen.
Wichtig wäre nun aber auch zumindest ein Instrument der historisch viel älteren asiatischen Maultrommelkultur für den Unterricht zur Verfügung zu haben, um dann sowohl an entsprechenden weiterführenden Musikbeispielen, als auch an den vorliegenden Instrumenten, bestimmte Besonderheiten und Unterschiede zu anderen Kulturen auch instrumental verdeutlichen zu können.
Metallene Maultrommeln sind allgemein in Musikinstrumentengeschäften erhältlich, und hinsichtlich typisch asiatischer Maultrommeln aus Holz, bzw. aus Bambus, lassen sich entsprechende philippinische Instrumente, in der Regel ebenso preiswert, zumeist in den sogenannten ‘Dritte Welt Läden’ besorgen.
Neben der musikalischen Vielfalt von Klangbeispielen - angefangen von einfachen solistischen Formen über mehrstimmiges Zusammenspiel mit verschiedenen Maultrommeln sowie verschiedenartigen traditionellen oder auch moderneren Besetzungen in Kombination mit den unterschiedlichsten Instrumenten, bis hin zur aufwendigen Orchesterinstrumentierung - kann dann auch die genauere Bekanntschaft mit den vorliegenden, und dabei natürlich auch auszuprobierenden Instrumenten, vermittelt werden.
Die europäischen Instrumente werden ja in der Regel an die Zähne angelegt und eng mit den Lippen umschlossen, wenn sie effektiv gespielt werden sollen. Da mag man sich als Lehrer vielleicht auch Sorgen wegen der Hygiene machen, falls solche Instrumente im Schulunterricht sorglos ausgetauscht werden.
Bei den Bambus-Instrumenten asiatischer Tradition bildet dies jedoch kaum ein Problem. Die philippinischen Instrumenten können viel unverbindlicher vor der Mundhöhle gespielt werden und müssen gerade nicht so verbindlich mit den Zähnen und Lippen in Berührung stehen. So kann es durchaus genügen, wenn die metallenen Instrumente hauptsächlich von ihren Besitzern vorgestellt, aber die durchaus problematischeren asiatischen Exemplare, an denen sich auch viel mehr erklären und erfahren läßt, vielleicht intensiver reihum erprobt werden. Dabei kann dann auch die im Vergleich mit den vorgestellten europäischen Exemplaren durchaus andere Spielweise dieser Instrumente, sowie ihre ganz anders angelegte Konstruktion und Funktionsweise, ohne weiteres deutlich werden.
Über die ersten Eindrücke solcher Unterschiedlichkeiten hinaus kann nun aber noch weitaus mehr verdeutlicht werden.
Die beindruckend virtuosen Maultrommelpassagen der Konzerte von Albrechtsberger sind nur mit mehreren verschieden gestimmten Maultrommeln oder eben einem bestimmten, weiterentwickelten metallenen Maultrommelinstrument, der sogenannten ‘Aura’, zu realisieren. Diese besteht aus einer festverbundenen Kombination verschiedener, harmonisch genau abgestimmter Einzelinstrumente, die der Solist während des Spiels geschickt wechseln muß. Damit erst ist er in der Lage, auch kompliziertere Melodien und harmonische Wendungen zu bewältigen, was auf einem Einzelinstrument nicht ohne Weiteres möglich ist. Das Ausprobieren der mitgebrachten Instrumente kann dies wieder sofort deutlich machen - ermöglicht dann aber auch die eingehendere Erklärung weiterführender Zusammenhänge.
Jede Maultrommel ist auf einen bestimmten Grundton eingestimmt. Die weiteren, beim Spiel an der Mundhöhle erzeugten Töne, werden durch die Veränderung der Lufthöhle des Mund- und Rachenraumes hervorgebracht und entsprechen dann der zum Grundton gehörenden Naturton- bzw. Obertonreihe. Hier lassen sich sogleich Querverbindungen zu anderen Instrumenten herstellen und erläutern, - beispielsweise zu bestimmten, in der hohen Lage überblasenen Flöten, oder auch zu solchen Kesselmundstückinstrumenten wie Fanfaren, Trompeten oder Hörnern usw., mit denen ebenfalls solche naturgesetzlich bedingten Tonfolgen erzeugt werden.
Das Phänomen der Bildung von Obertönen läßt sich zudem leicht auf Saiteninstrumenten, beispielsweise mittels der ohne weiteres von jedem Musiklehrer vorzuführenden Flageolett-Töne auf einer Saite der Gitarre verdeutlichen; ebenso wie sich am Musikbeispiel eines Alphornbläsers oder einer Jagdhorn-Gruppe verdeutlichen läßt, daß auch da im Prinzip das gleiche, naturgesetzlich vorbestimmte Ton- bzw. ‘Intervall’- Material verwendet wird.
Andererseits ergibt sich damit auch sofort die Möglichkeit, wieder auf verschiedene Musikbeispiele aus anderen Kulturen näher einzugehen, in denen gleiches deutlich wird; so etwa - um nur ein Beispiel zu nennen - slowakische Flötenmusik mit der Fujara.
Das Phänomen entsprechender Obertonreihen ist aber auch typisch für Musik auf dem Mundbogen, wo wiederum afrikanische Tonbeispiele vorgestellt werden könnten.
Das Prinzip des Mundbogens, bei dem sich hinsichtlich der Spielweise durchaus Vergleichbares zur Maultrommel findet, kann zudem wieder ohne weiteres mit einfachsten Mitteln selbst verwirklicht, und somit besser und durchaus erlebnisreicher als durch Erklärungen allein, vermittelt werden.
Es genügt dazu schon ein einfaches schmales Gummiband, welches gespannt, und mit einem Ende im Mundwinkel angesetzt, vor der Mundhöhle angezupft wird, und so bestimmte Obertöne in durchaus ähnlicher Weise wie auf der Maultrommel, wenn auch nicht so klar wie bei dieser, hervorbringen kann.
Von einem solchen, demonstrativ einfachen, Instrumentalvorgang, der aber im Wesentlichen eben doch der gleiche wie auf dem musikgeschichtlich so überaus bedeutsamen Musikbogen ist, lassen sich aber - neben speziellen Beispielen aus bestimmten ethnischen Musikkulturen - auch wieder grundsätzliche Verbindungen zur Musikgeschichte bzw. zur geschichtlichen Entwicklung musikinstrumenteller Technik, herstellen und verdeutlichen.
Die Geschichte der Saiteninstrumente, aber auch bestimmter Flöten, beginnt wahrscheinlich mit derartigen Tonfolgen, die im Prinzip immer auf naturgesetzlich begründeten Intervallverhältnissen beruhen, welche sich mathematisch als ganzzahlige Bruchverhältnisse erklären lassen, und außer in Physik und Mathematik, auch in der Geschichte anderer Naturwissenschaften, wie etwa Astronomie oder Biologie, aber auch in Philosophie und Geisteswissenschaften, eine wesentliche Rolle spielen.(4)
Für die Geschichte der Maultrommel, die mit gerade diesen Tönen, schon seit Jahrtausenden, immer wieder ihre Faszination zu entfalten vermochte, ist dabei wieder folgendes wesentlich: Es hängt bei diesem Instrument vor allem von der Präzision des feinen Doppelspaltes, durch den die angezupfte elastische Lamelle hindurchschwingt, ab, wie effektiv diese Obertonreihe mit dem Instrument hörbar gemacht werden kann.
In musikgeschichtlichen Untersuchungen zu diesem Instrument wird dieser Sachverhalt aber oft nicht deutlich gewürdigt, so zum Beispiel auch in der berühmten, zu diesem Instrument oft zitierten, Arbeit von Curt Sachs. (5)
Ein solches Defizit an Sachkenntnis zum konkreten Instrumentalmaterial, wird sich dann aber auch für das Verständnis seiner geschichtlichen Entwicklung, sowie seiner Bedeutung innerhalb des Gesamtsystems musikinstrumenteller Technikentwicklung auswirken. Und gerade dies kann dann wieder problematisch für ein sachlich angemessenes Verständnis von fremden Musikkulturen werden. Eine genauere Beachtung der mit diesem Instrument verbundenen Entwicklungsprobleme erschließt jedoch bessere Möglichkeiten, auf bestimmte Besonderheiten der Weltmusikgeschichte näher einzugehen und sich auch den besonderen Entwicklungen und Werten außereuropäischer Musikulturen in einer angemesseneren und weniger europäisch- voreingenommenen Verständnisweise anzunähern.
Gerade in diesem Sinne sollten also auch bestimmte Probleme musikinstrumenteller Höherentwicklung ernster genommen werden.
So lassen sich in Bezug auf Maultrommel zumindest drei wichtige Aspekte unterscheiden.
Ein Aspekt zeigt sich deutlich in der europäischen Geschichte des Instrumentes.
Die festgefügte Kombination mehrerer genau abgestimmter einzelner Metallbügel-Maultrommeln, zu dem dann als ‘Aura’ bezeichneten Maultrommel-Aggregat, ist natürlich eine Höherentwicklung im Sinne der flexibleren, harmonisch reicheren und für vielseitigeres Melodiespiel besser geeigneten Verwendung. Solche Instrumente entstanden in Mitteleuropa. In Asien gibt es dazu keine vergleichbare Entwicklung; lediglich in Taiwan - aber wohl nicht auf dem chinesischen Kontinent - findet sich eine spezielle traditionelle Variante des Instrumentes, bei der in einem Holzstück zwei verschiedene Maultrommeln integriert sind. Es ergeben sich bei diesem Doppelinstrument dann aber keineswegs solche, etwa mit der Aura vergleichbaren, neuartigen spieltechnischen Möglichkeiten.
Ein anderer wesentlicher Entwicklungsaspekt zeigt sich, wenn man mehr auf die inneren Konstruktions-Verhältnisse dieses Musikinstrumentes achtet, d.h. mehr das eigentlich Wesentliche im Sinne der spezifischen instrumentalen Schallerzeugung zu ergründen sucht.
Hier geht es, wie bereits betont, vor allem auch um die Präzision im Verhältnis von Doppelspalt und Lamelle.
Curt Sachs sah dieses Problem erstaunlicherweise nicht.
Seine, wenige Jahre nach der "Systematik der Musikinstrumente" vorgestellte Interpretation von Höherentwicklung bei diesem Instrument, favorisiert von vornherein die europäischen Metallinstrumente, ohne wirklich nach den wesentlichen inneren Wirkungsbedingungen der schallgenerierenden Konstruktion zu forschen oder zu fragen.
Stellt man aus dieser Problemsicht nun aber die Frage, in welchen Kulturen bei diesem Instrument vielleicht auch besondere, die Spaltpräzision sichernde und für eventuelles Nachregulieren bzw. Feineinstellen nutzbare, Vorrichtungen entwickelt wurden, so finden sich solche technischen Verfeinerungen wiederum an bestimmten asiatischen Instrumenten, auch wenn diese bis in die Gegenwart oft aus Holz hergestellt werden.
Verschiedene Exemplare im Magazin (leider nicht in der Exposition) des Berliner Musikinstrumentenmuseums belegen dies.
Die üblichen europäischen Metallinstrumente verfügen nicht über eine solche, bei den asiatischen Instrumenten sehr fein gestaltete, Vorrichtung; - eine solche Höherentwicklung ist also bei dem traditionellen Instrument offenbar bislang nur in Asien erfolgt.
Es gibt aber noch einen, in Hinsicht auf die Problematik der Höherentwicklung musikinstrumenteller Technik, durchaus wesentlicheren Aspekt, der die im Falle der Maultrommel so überaus bemerkenswerten Unterschiedlichkeiten von asiatischen und europäischen Kulturentwicklungen weiter verdeutlichen kann und sich dabei auch wieder mit eindrucksvollen Klangbeispielen belegen läßt.
Sowohl in Europa als auch in Asien ist dieser spezifische Tongenerator, also die im Doppelspalt durchschwingende elastische Zunge, Ausgangspunkt für weiterführende instrumententechnische Entwicklungen gewesen, bei denen ein Funktionswandel des schallgenerierenden Grundelementes von einem angezupften zu einem angeblasenen Schallgenerator erfolgt ist.
Die grundsätzliche Möglichkeit eines solchen Funktionswandels kann wieder bei jeder einigermaßen solide hergestellten europäischen Metallmaultrommel ohne weiteres selbst erprobt werden, indem das an die Zähne gelegte und mit den Lippen gut abgedichtete Instrument nach dem Anzupfen der Lamelle auch noch deutlich angeblasen wird. Es entsteht ein neuartiger Ton - zumeist der Grundton der Lamelle - durch den das ursprünglich angezupfte Instrument nun zum ‘Blasinstrument’ umfunktioniert werden konnte.
Für solche angeblasenen Töne auf der gezupften Maultrommel gibt es auch Klangbeispiele aus dem folkloristischen Umgang mit dem Instrument.
Diese funktionswandelnde Möglichkeit audioorganischer Weiterentwicklung wurde nun sowohl in Asien als auch in Europa realisiert - vollzog sich jedoch jeweils auf höchst unterschiedliche Weise.
Da ist zunächst die Mundharmonika zu nennen, welche in China viel früher als in Europa entwickelt wurde, und auch ganz anders funktioniert als das inzwischen allbekannte und weltverbreitete Instrument eines deutschen Erfinders.
Das chinesische Mundharmonikainstrument ist in der musikwissenschaftlichen Literatur mehrfach eingehender dargestellt worden. Es lassen sich dazu auch eindrucksvolle Klangbeispiele finden. Diese können jedoch nun, gerade im Vergleich mit dem europäischen Instrument, bedeutungsvoller im Unterricht eingesetzt werden und gerade dann besonders interessant wirken, wenn es gelingt den musikinstrumentellen Entwicklungshintergrund tatsächlich als Problem zu vermitteln.
Hinsichtlich der deutschen Mundharmonika wird es sicher wieder kein Problem sein, solche, möglichst von den Schülern selbst mitgebrachten Instrumente im Musikunterricht zu demonstrieren; - ebenso wie es bei diesem Instrument kein Problem sein muß, auch einen Blick in sein Inneres zu werfen, wo dann sofort der grundsätzliche konstruktive Zusammenhang zur Maultrommel ersichtlich sein kann.
Zudem kann dabei auch leichter verständlich werden, wie die europäische Entwicklung dieses spezifischen Prinzips von Tonerzeugung vonstatten ging. Es wurden in der Nachfolge der Mundharmonika immer mehr Instrumente mit Blasebalg entwickelt. Instrumente also, bei denen die im Prinzip gleichen Zungen nicht mehr mit dem Mund, sondern eben - wie bei den nun allseits bekannten Akkordeon- und Harmonikainstrumenten - mit Hilfe eines Luftbalges in Betrieb gesetzt werden.
Gerade hier aber kann es wiederum hochinteressant sein, die kulturell so unterschiedliche Verwendung derartiger aus Europa stammender und inzwischen weltweit verbreiteter Instrumentalentwicklungen, mit Klangbeispielen aus den verschiedensten Musikkulturen der Welt, vergleichend vorzustellen.
Nun muß aber unbedingt noch ein ganz anderes, auch für viele versierte Musikinstrumentenkundler oft unbekanntes Blasinstrument genannt werden, welches ebenfalls eine hochinteressante Weiterentwicklung der Nutzung des ‘Maultrommel-Prinzips’ darstellt und wiederum nur in Asien entstanden ist.
Es gibt in dortigen Musikkulturen auch ein besonderes schalmeienartiges Instrument, mit dem es möglich ist mittels eines einzigen derartigen Tongenerators (also wieder eine im Doppelspalt eingerahmte elastische Zunge, die man in gleicher Form auch zur Erzeugung eines einzelnen Tones auf der Mundharmonika nutzen könnte) viele Töne und beliebige chromatische Tonleitern zu erzeugen.
Äußerlich sieht dieses Instrument zunächst wenig beeindruckend aus; jeder reisegebildete Europäer wird es auf den ersten Blick durchaus als eines dieser sehr einfachen flötenartigen Musikinstrumente, die man von fernen und weniger entwickelten Ländern und Kulturen allenthalben kennt, einstufen: Ein einfaches Stück Bambusrohr, mit einfachen Grifflöchern.
Dieser Eindruck mag sich verstärken, wenn man vielleicht noch erlebt, daß das Instrument auch in der Spielhaltung entsprechenden Querflöten, wie sie als schlichte Bambusrohr-Instrumente vielfach vorkommen, ähnelt.
Es wird bei diesem Instrument aber nicht wie bei Flöten an eine Kante geblasen, sondern die Anblasluft des Spielers geht eben durch einen seitlich in das Bambusrohr fest eingelassenen kleinen Metallrahmen mit durchschwingender Zunge. Damit erzeugt das Instrument dann auch keine Flötentöne, sondern beeindruckend andersartige Klänge, die am ehesten vielleicht noch mit Klarinettentönen zu vergleichen sind.
Klangbeispiele dafür werden sich aber wohl nur mit Hilfe von entsprechend spezialisierten Musikethnologen, beispielsweise von Experten für chinesische oder vietnamesische Musik, besorgen lassen.
In der ganzen, ansonsten so hochentwickelten und durchaus vielseitigen Musikinstrumentenkultur Europas, von der aus inzwischen ja sowohl Metallmaultrommeln, als auch Mundharmonikas und Akkordeons usw. weltweit vermarktet werden, gibt es jedoch keine damit vergleichbare instrumentelle Entwicklung.
Nur in ganz bestimmten ‘regionalen’ Musikkulturen Asiens ist eine solch exzellente musikinstrumententechnische Weiterentwicklung der Nutzung dieses so vielseitigen audioorganischen Prinzips gelungen.
Innerhalb dieser erstaunlich breiten Palette von spezifischen musikinstrumentellen Weiterentwicklungen, die sich historisch alle auch vom Prinzip der Maultrommel (bzw. von ihrer spaltgenauen Kombination von Doppelrahmen und Lamelle) ableiten lassen, erweist sich dieses kulturwüchsige Grundelement audioorganischer Evolution, als ein systematisch wichtiger Ausgangspunkt für ganz bestimmte Phänomene der Höherentwicklung innerhalb des Gesamtsytems der Musikinstrumente.
Man kann die Maultrommel insofern vergleichsweise auch als einen ‘Archaeopteryx’ unter den Musikinstrumenten betrachten; - ein Instrumentenwesen also, welches bereits über bestimmte besondere Eigenschaften verfügt, die später, in der weiteren Evolution dieser besonderen Kulturtechnik, wesentlich für das Zustandekommen eines ganz neuartigen Entwicklungszweiges von Musikinstrumenten werden konnten.
So fragwürdig diese, zunächst sehr grobe, Bio-Analogie vielleicht auch sein mag, so berechtigt bleiben aber doch entsprechend weiterführende Überlegungen, mit denen dann etwa auch nach ‘Quastenflossern’, ‘Schnabeltieren’ oder anderen qualitätsbildenden Übergängen oder auch Sonderentwicklungen, innerhalb des Systems der Musikinstrumente gesucht werden kann.
Denn Überlegungen in dieser Richtung können hilfreich für ein besseres Verständnis dieser besonderen Art von Technik sein. Und dieses wiederum kann hilfreich sein, um auch in der Begegnung mit fernen und fremden Musikkulturen verständnissinniger zu reagieren, und sich so auch mit der oft nur scheinbar näheren eigenen Kultur wieder nutzgewinnender und nutzvoller auseinandersetzen zu können.
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Anmerkungen/Quellen:
(1)
Hornbostel, Erich, von / Sachs, Curt: Systematik der Musikinstrumente. Ein Versuch, in: Zeitschrift für Ethnologie, 1914, S.553-590
Sachs, Curt: Vergleichende Musikwissenschaft. Musik der Fremdkulturen, Heidelberg, 1959, S.73 ff
(2)
Eichler, B.H.J.: Das Schwirrholz - Tongenerator zwischen Natur und Geist (Teil I), in: Bröcker, Marianne (Herausg.): Berichte aus dem ICTM Nationalkomitee Deutschland, 1993, S. 45-57
Eichler, B.H.J.: Über die Wechselseitigkeiten von Instrumentalkonstruktion und Klangmöglichkeiten bei Maultrommeln, in: Bröcker, Marianne (Hrsg.): Berichte aus dem ICTM Nationalkomitee Deutschland 1995, S. 151-165
Eichler, B.H.J.: Einige grundsätzliche Aspekte zum besseren Verständnis von Musikinstrumenten im Lichte der Arbeiten des Verhaltenspsychologen Erich von Holst, in: Elsner, Jürgen / Michel, Andreas (Hrsg.): Berichte aus dem ICTM Nationalkomitee der DDR, 1990, S.94-109
(3)
Sachs, Curt: Die Maultrommel. Eine typologische Vorstudie, in: Zeitschrift für Ethnologie, 1917, S.185-200
Eichler, B.H.J.: Maultrommel aus Bambus / Funktion der Maultrommel, in: Junge Welt vom 7.3.1980
Eichler, B.H.J.: Töne aus dem Bambus / Bau der Maultrommel, in: Junge Welt vom 21.3. 1980
Eichler, B.H.J.: Über die Wechselseitigkeiten von Instrumentalkonstruktion und Klangmöglichkeiten bei Maultrommeln, in: Bröcker, Marianne (Hrsg.): Berichte aus dem ICTM Nationalkomitee Deutschland 1995, S. 151-165
Fox, Leonard: The Jew's Harp, Cranbury, 1988
Plate, Regina: Kulturgeschichte der Maultrommel, Bonn 1992
(4)
Eichler, B.H.J.: Modelle, Beobachtungen, Experimente und eine große Forscherpersönlichkeit, in: Biologie in der Schule, 35(1986), S. 3o-35
(5)
Sachs, Curt: Die Maultrommel. Eine typologische Vorstudie, in: Zeitschrift für Ethnologie, 1917, S.185-200
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