Dudelsäcke im europäischen
Spannungsfeld zwischen Ost und West
(Vortrag vom 4.12.2004 zur Internationalen Arbeitstagung "Musikinstrumentenbau im interkulturellen Diskurs"
des Musikwissenschaftlichen Seminars der Universität Bonn.)
Betrachtet man die Gesamtheit
der Musikinstrumente aus vergleichsanalytischer Sicht(01), so zeigt sich in der Abteilung der Dudelsackinstrumente, also
bei diesen in besonderer Weise körperverbundenen Blasinstrumenten, die mit
einem unter permanentem Blasdruck stehenden Sackbalg und mindestens einer mit
Grifflöchern zu bespielenden Melodiepfeife bestückt sind, dass es mindestens vier
physikalisch-akustisch ganz unterschiedlich wirkende Tongeneratoren(02) gibt, mit denen solche Instrumente zum
Klingen gebracht werden können.
So wäre dafür die rahmenjustiert-spaltgenau
durchschwingende Zunge(03, also ein
schon sehr alter, vor allem in Asien perfektionierter Tongenerator einigermaßen
geeignet; - es könnte aber auch - viel
effektiver – eine modernere Erfindung aus dem vergangenen Jahrhundert genutzt
werden, ein ganz neuartiger Tongenerator, der als membranophones
Blasinstrument erst am Anfang seiner musikinstrumentellen Entwicklung steht(04).
Wir kennen jedoch bislang nur Dudelsäcke,
deren Spielpfeifen entweder mit sogenanntem „einfachem“, oder aber mit sogenanntem „Doppelrohrblatt“(05) betrieben werden. Und wenn man
diese Instrumente nun nicht unter physikalisch-akustischem, sondern eher unter ethno-organologischem
Aspekt betrachtet, so zeigt sich, dass diese zwei verwirklichten Möglichkeiten
nur in Europa zu ausgeprägterer Entfaltung gekommen sind.
Dudelsäcke sind eine besondere europäische
Spezialität. Ein bemerkenswertes und wesentliches Kulturgut unseres Kontinents,
welches sich hier mit einem
erstaunlichen Reichtum an verschiedenen Instrumententypen und Varianten entwickelt
hat.
Dabei haben alle großen, aber
auch viele der kleineren Nationen und Ethnien Europas, jeweils ihre eigenen,
oft ganz speziellen Dudelsackinstrumente hervorgebracht.
Und da, wo heutzutage auf
anderen Kontinenten Dudelsäcke eine größere Rolle im musikalischen Geschehen spielen,
stammen diese jeweils in nahezu unveränderter Form von bestimmten, eben auch ethnisch
zu bestimmenden, europäischen Dudelsäcken ab.
Also - wenn gegenwärtig so oft und so
eindringlich von spezifisch europäischen Werten
und von Problemen der europäischen Integration die Rede ist, so lohnt es
sich, diese eigenartigen Instrumente sowohl als Wert, als auch als Problem mit
zu bedenken und ernst zu nehmen, denn gerade hier zeigen sich ganz spezifische
europäische Konflikte und Spannungsfelder.
Betrachtet man die verschiedensten
Dudelsackinstrumente hinsichtlich ihrer Herkunft, so zeigt sich in Bezug auf
ihre Melodiepfeifen eine erstaunlich ausgeprägte Ost- West Teilung unseres
Kontinents, eine deutliche kulturelle Scheidelinie, ein musikkultureller Limes.
Vergleichsweise so, wie es zwischen Asien
und der quasi asiatischen Halbinsel Europa,
in Bezug auf die audioorganische Nutzung der rahmenjustiert-spaltgenau
durchschwingenden Zunge, deutliche und höchst bemerkenswerte kulturelle Unterschiede,
und damit im Zusammenhang, auch immer noch fest verwurzelte audioorganologische
Missdeutungen und Verständnisschwierigkeiten hinsichtlich der systematischen Einordnung
und Bewertung dieses Tongenerators(06)
gibt, so gibt es innerhalb Europas eine ausgeprägte kulturelle Grenze
hinsichtlich der Nutzung von „einfachem und doppeltem Rohrblatt“. Und auch aus
dieser Grenzrealität können vielleicht ähnlich spezifische Verständnisschwierigkeiten,
Vereinfachungen und Fehlbewertungen erwachsen…
In Osteuropa kommen ausschließlich Dudelsackmelodiepfeifen
mit „einfachem Rohrblatt“ vor – obwohl in dortiger Folklore traditionell auch verschiedene
mundgeblasene „Doppelrohrblatt“-Instrumente in Gebrauch sind. Und nach Westeuropa
hin werden ausschließlich Dudelsack-Melodiepfeifen mit „Doppelrohrblatt“ gespielt,
obwohl das „einfache Rohrblatt“ doch das scheinbar einfachere ist(07), in dortiger Folklore auch vielfach
mundgeblasen verwendet wird, und dort auch
für die Bordunpfeifen genutzt wird.
Die asiatisch-europäischen Unterschiede bei
der Verwendung der rahmenjustiert-spaltgenau durchschwingenden Zunge sind für
Fachleute einigermaßen augenfällig und zweifellos aufschlussreich.
Der
innereuropäische Dudelsack-Limes ist hingegen weniger augenfällig, kann aber
auch aufschlussreich sein, sobald man ihn näher betrachtet.
Und eine nähere Betrachtung berührt nun
unmittelbar die Thematik unserer Tagung, denn diese europäische Ost-West-Scheidelinie
geht natürlich wesentlich durch Deutschland.
Ein bisschen ist im Süden noch
Italien davon betroffen und andererseits wird auch im Norden Europas, in
Skandinavien, ganz wie in Osteuropa, ausschließlich das „einfache Rohrblatt“
beim Dudelsack verwendet.
Aber, mit Blick auf das Grenzgebiet Deutschland
wird die Angelegenheit verzwickt und spannend.
Wenn ich gesagt habe, dass alle großen
Nationen Europas ihre eigenen spezifischen Dudelsackinstrumente hervorgebracht
haben, so gilt das für die Deutschen zunächst in besonderer Weise: In
Deutschland kamen Dudelsäcke beiderlei Konstruktion vor: Nach Praetorius 1619 (08) etwa Bock und Dudey in osteuropäischer Art und - in
eher westeuropäischer Art - die Schaperpfeiff und das möglicherweise auch mit Doppelrohrblatt
bestückte Hümmelchen(09). Praetorius
erwähnt darüber hinaus noch weitere Dudelsäcke. Also eine bemerkenswerte
Vielfalt in diesem kulturellen Grenzgebiet.
Aber keine Nation Europas hat später ihre Dudelsackkultur
im eigenen Lande so gründlich verkommen lassen wie eben gerade die deutsche.
Nimmt man das Ende des zweiten Weltkrieges als
historische Zäsur, so lässt sich sagen, dass zu diesem Zeitpunkt innerhalb
Deutschlands keinerlei authentische deutsche Dudelsackkultur mehr existierte.
Und auch von den Instrumenten etwa in der Art der Schaperpfeiff, die den
Deutschen allenthalben von den Bildern Albrecht Dürers und anderer alter
deutscher Meister wohlbewusst sind, finden sich in Museen nur noch Bilder, aber
meines Wissens keine Original-Instrumente aus dieser Zeit.
Andererseits ist der eher osteuropäische
deutsche Dudelsack, der Bock, der es in
der bildenden Kunst zu keiner so hervorgehoben, ehrenhaften Position gebracht
hat, sowohl in Museen, als auch in der musikantischen
Wirklichkeit durchaus als authentisches Original erhalten.
Und hier erweist sich die Sache nun als
noch verzwickter:
Was nämlich diesen Instrumententyp
betrifft, so findet sich doch innerhalb Deutschlands eine ungebrochen bis in
die Gegenwart tradierte Kultur des Dudelsackspiels.
Die in der Lausitz lebende, lange Zeit von
den Deutschen unterdrückte slawische Minderheit der Sorben, hat sich das
Musizieren mit dem sorbischen Bock nie nehmen lassen.
Und dieser Instrumententyp hat außerdem, freilich
dabei in etwas anderer Form, auch als deutscher Bock, innerhalb deutscher
Musikkultur bis in die Gegenwart überlebt.
Allerdings eben nicht innerhalb
Deutschlands, sondern bis zum Ende des zweiten Weltkrieges außerhalb, als egerländer
Dudelsack, gespielt von einer dort, früher
in engem Kontakt mit einem dudelsackbeflissenen slawischen Umfeld lebenden
deutschen Minderheit.
So verdanken die Deutschen also letztlich
sowohl die Tatsache, dass der Dudelsack innerhalb Deutschlands niemals ganz
ausgestorben ist, als auch die Tatsache, dass es doch auch eine authentische,
bis in die Gegenwart reichende deutsche Dudelsacktradition gibt, letztlich den
Slawen.
Nach dem Krieg gab es dann in
Westdeutschland auch alsbald wieder ausgeprägte Bemühungen um das Überleben des
in einigen Exemplaren kriegsvertrieben nach Süddeutschland eingewanderten egerländer
Dudelsacks zu sichern.
In Ostdeutschland setzte ein deutliches
Interesse an deutscher Dudelsackmusik hingegen erst in der zweiten Hälfte der
siebziger Jahre ein, und zwar vor allem im Zusammenhang mit der damals dort,
ähnlich wie zuvor schon in Westdeutschland, aktiver agierenden jüngeren und
rebellischeren Musikfolklorebewegung(10).
Das Hauptinteresse solcher Neofolkloristen
in der DDR richtete sich dabei allerdings nicht auf den nahe liegenden
osteuropäischen Dudelsack im eigenen Lande(11),
sondern auf den eher westeuropäischen, in der Art der Schaperpfeiff, von dem
bald einige, im fernen Belgien hergestellte Exemplare, privat aus
Westdeutschland eingeführt wurden. Später stellten dann auch verschiedene Folklore-Musikanten
derartige Instrumente selbst her.
Ein nicht gleichzusetzendes, aber
vergleichbar widersprüchliches Phänomen, lässt sich - freilich
wiederum mit anderen west-östlichen Vorzeichen - auch
bei der nach dem zweiten Weltkrieg erfolgenden Förderung der sorbischen Kultur
vermerken. Auch da wurde zunächst nicht in erster Linie auf die verbliebenen
authentischen sorbischen Dudelsackspieler im eigenen Lande geschaut, sondern es
wurden nach polnischem Vorbild gefertigte Dudelsäcke in die neu entstehende, staatlich
geförderte Volkskunstensemble-Musik eingeführt, obwohl sich diese Instrumente
von den eigentlich originalen und erhalten gebliebenen sorbischen Dudelsäcken
in verschiedener Hinsicht deutlich unterschieden(12).
Alles in allem zeigt sich heute, dass der
in Deutschland zunächst gründlicher ausgestorbene Dudelsacktyp in der Art der
Schaperpfeiff, nun - wohl auch im Zusammenhang mit einem inzwischen
weit verbreitetem Mittelalterkult -
besonders lebendig, d.h. besonders beliebt und verbreitet ist, und dabei
vielleicht der Bock, der sich zuvor doch eigentlich als der überlebenskräftigere
erwiesen hatte, eher als gefährdet erscheinen kann.
Es ist eine eigenartige Entwicklung und
eine eigenartige Mentalität, in die wir da hineingeraten: Vom wohlbewussten und
inzwischen mit besonderer Vorliebe behandelten Dudelsacktyp sind keine Original-Exemplare
mehr in Deutschland zu finden, wohingegen für den als Original erhaltenen kein ausgeprägtes Bewusstsein und weitaus
weniger Vorlieben zu finden sind.
Vor diesem Hintergrund stellt sich heute - nachdem
Deutschland vor Jahrhunderten ein offenbar lebendiges und kulturell
vermittelndes Dudelsackgebiet war, dann lange Zeit eine nahezu dudelsackfreie
Zone in Europa hervorbrachte, und sich nun auch wieder mit deutscher
Dudelsackkultur neu belebt - auch die
Frage, wie sich das europäische Dudelsack-Grenzgebiet wohl in Zukunft entwickeln
wird?
Wird es sich vielleicht einfach weiter nach
Osten verschieben, indem etwa der Instrumententyp in der Art der Schaperpfeiff,
künftig auch immer mehr in Osteuropa anzutreffen sein wird?
Oder werden sich - etwa
im Gegenzuge - auch Instrumente mit „einfachem Rohrblatt“,
bzw. vielleicht Instrumente in der Art des Bockes(13), wie sie bislang vor allem in Böhmen und Mähren, sowie in
Polen und eben in Deutschland anzutreffen waren, auch mehr nach Westeuropa hin verbreiten?
Oder sind etwa ganz andere Arten von Ausprägungen,
Ausdehnungen oder auch wieder Verwischungen, dieses gegenwärtig doch noch so deutlichen,
wenn auch seit Jahrzehnten wieder belebten und neu in Bewegung geratenen,
Dudelsack-Grenzgebietes zu erwarten?
Werden künftig vielleicht auch bestimmte neue
Nationalismen in Europa wieder mehr Wert auf altherkömmlich - konservierende Authentizität
legen und sich dabei kulturell wieder mehr ein- und abgrenzen wollen usw…?
Wenn man solche Fragen aufwirft, die immer
auch die Frage nach möglichen Verbesserungen und Weiterentwicklungen von traditionellen
ethnischen Instrumenten implizieren, so liegt es nahe, den Bock noch etwas
eingehender zu betrachten.
Von tschechischen Dudelsackfreunden habe
ich oft (und oft wohl auch als Freundlichkeit zu verstehen) gehört, dass es bestimmt
ein Deutscher gewesen sei, der auf die Idee gekommen ist, dem böhmischen Bock einen
armbetriebenen Blasebalg anzufügen.
Es wäre interessant, wenn sich genaue Belege
für die detaillierte Vermittlung dieser Idee finden ließen.
Aber zweifellos
ist die Anfügung eines Blasebalges einer der wichtigsten Schritte für die
Weiterentwicklung von Dudelsackinstrumenten, die sich allerdings als allgemeine
- sozusagen gesamteuropäische - Tendenz
sowohl in West- als auch in Osteuropa findet, und auf die ich nochmals
zurückkommen möchte. - -
Von gleicher Seite habe ich aber auch oft
gehört, dass es vor allem zwei Feinde für das sprichwörtliche „böhmische Trio“,
also das traditionelle Zusammenspiel von
„Geige, Bock und Klarinette“, - welches ja auch im deutschen Volkslied zuweilen
besungen wird -, gegeben hat: Zum Einen
die Verbreitung industriell gefertigter Harmonika-Instrumente und zum Anderen das
Aufkommen der Böhmischen Blasmusik. Und an Beidem - also
an der Entwicklung von Harmonikainstrumenten und auch an der Entwicklung von Instrumenten
für Blasorchester - waren schließlich die Deutschen nicht
unbeteiligt.
Aber hier können sich nun die Geister
scheiden:
Einerseits geschieht es den
Dudelsäcken, die sowohl von ihrer Umständlichkeit, als auch von ihrem Tonumfang
und ihren harmonischen Möglichkeiten her betrachtet, doch eher problematisch
und armselig geblieben sind, vielleicht letztlich
recht, wenn sie von besseren und wirkungsvolleren Instrumenten verdrängt werden.
Andererseits ist dieser Verdrängungsprozess
mit signifikanten sozialökonomischen Veränderungen und der Vernichtung bzw. Verhinderung
bestimmter, bereits entwickelter Möglichkeiten musikantischen Schöpfertums und der
Missachtung bestimmter traditioneller musikalischer Werte verbunden.
Und aus dieser Sicht stellt sich eben auch
die Frage, wieso gerade die Deutschen, mit ihrer ansonsten so vorzüglichen Kultur
des Musikinstrumentenbaus, gerade für ihre Dudelsäcke letztlich doch so wenig
getan haben. Andere Nationen - wenn ich beispielsweise an Franzosen oder Iren
denke - haben sich da durchaus anders verhalten.
Ich möchte nun kurz zurück zum Blasebalg,
und damit auch zum Schluss meines Beitrages kommen.
Mit der oft anzutreffenden Meinung, dass es
sich bei seiner Anfügung vielleicht lediglich um die Bequemlichkeitsidee eines
asthmatischen Dudelsackliebhabers gehandelt habe, werden die neuen Existenzbedingungen,(14) die ein Dudelsack damit erhält,
leicht unterschätzt, denn mit Blasebalg gewinnt das Instrument ganz neue spieltechnische
Möglichkeiten und im Weiteren auch ganz neue audioorganische
Entwicklungsmöglichkeiten; - Möglichkeiten die bislang noch keineswegs ausgeschöpft
sind.
Ich denke, dass in der weiteren Perspektive
Dudelsackinstrumente mit ergonomisch und physikalisch optimierten Blasebälgen(15), sowie mit neuen, speziell für
Blasebalgbetrieb entwickelten Rohrblattmaterialien, deutliche Verbesserungen und
auch Erweiterungen ihrer musikalischen Möglichkeiten erfahren können(16).
Und in all diesen Zusammenhängen, also in
Hinsicht auf das innerhalb Europas in Bewegung geratene Dudelsack-Grenzgebiet,
als auch in Hinsicht auf die Möglichkeiten verbesserter Dudelsack-Technologien,
ist es denkbar, dass künftig auch die Deutschen wieder einen stärkeren Beitrag zur
Pflege und Entwicklung europäischer Dudelsackkultur leisten.
Hinsichtlich der
geschilderten Grenzproblematik denke ich, dass es da vielleicht eine aus ihrer
geographischen und geschichtlichen Lage rührende Verantwortlichkeit gibt(17), und hinsichtlich des Mutes, gerade
auch bei traditionellen Volksinstrumenten spezifisch Neues und Verbessertes zu
wagen, denke ich, dass man trotz vieler oft innovationsfeindlicher Folklorismen
und trotz bestimmter vorwiegend rückwärts blickender Authentizitätsargumentationen,
letztlich doch Hoffnung haben kann(18).
Die Dudelsackkulturen der
Vergangenheit, deren Nachleben heute oft mit konservierenden Argumenten unter
dem Banner ihrer „unverfälschten Bewahrung“ betrieben wird, waren schließlich
zu ihren wirklichen Lebzeiten durchaus auch offen für Neuerungen und
Verbesserungen.
*
Anmerkungen/Quellen:
(01)
Siehe dazu:
Eichler, Bernd H. J., Ausgewählte Thesen und Anmerkungen zur „Vergleichsanalytischen Musikinstrumentenforschung“ (VAO), (Vorgetragen und
erläutert am 14.5.1997 im Interdisziplinären Institut für
Wissenschaftsphilosophie und Humanontogenetik an der Humboldt-Universität zu
Berlin)
(02)
Siehe dazu:
Eichler, Bernd H. J., Zur systematischen Position der sogenannten „durchschlagenden Zunge“, (Abstract zum Vortrag auf dem 20. Musikinstrumentenbau
Symposium, vom 19.-21.11.1999 im Kloster Michaelstein)
Denkbar wäre in diesem Zusammenhang auch die Möglichkeit,
eine Windkapselvorrichtung für ein Kesselmundstück mit nachgebildeten
künstlichen Lippen zu entwickeln – freilich kein nahe liegendes, sondern ein reichlich
kompliziertes Unterfangen, welches hier nicht näher in Erwägung gezogen wurde.
Allerdings muss der Vollständigkeit halber noch eine spezifische Nebenvariante
des Doppelrohrblattes, welches als „halbes Doppelrohrblatt“ bezeichnet werden
könnte, erwähnt werden, nämlich ein durchaus unkompliziert herzustellender
Tongenerator, der nur mit einer Halbmembrane (und nicht wie beim Doppelrohrblatt mit zwei Halbmembranen)
ausgerüstet ist, d.h. nur über eine Halbmembrane alsprimäres
„wesentliches Element schallrelevanter Oszillation“ (WESO) verfügt.(Siehe dazu auch Anmerkung 3)
Dabei funktioniert ein solcher, in diesem Falle tatsächlich
vergleichsweise „einfacherer“ Tongenerator nicht grundsätzlich anders als ein „ganzes
Doppelrohrblatt“. Wie meine diesbezüglichen Versuche bisher gezeigt haben, aber
auch nicht effektiver. (Siehe dazu auch: Eichler, B. H. J., Das Hümmelchen –
ein altdeutscher Dudelsack, Leipzig 1990)
Bezüglich des „einfachen Rohrblattes“ wäre hier entwicklungsgeschichtlich
und physikalisch-akustisch auch die genauere Differenzierung von entsprechenden
Zungen, die nach oben (d.h. entgegen der Anblasrichtung) oder nach unten (d.h.
in Richtung der Grifflöcher) gerichtet sind, zu bedenken.
Letztlich geht es bei all diesen Überlegungen jedoch nicht
nur darum, bei welchen windbetriebenen Tongeneratoren etwa eine den Blasdruck zusammenhaltendeWindkapsel möglich ist, um damit von der „mundbetriebenen“
auch zur „sackbetriebenen“ Spielweise, also vom direkt mundgeblasenen
Instrument auch zur windkapselbestückten Dudelsackpfeife übergehen zu können,
sondern vielmehr um die weitaus wichtigere Frage nach den physikalisch genauer
zu ermessenden, „Reduzier-Ventileigenschaften“ bestimmter Tongeneratoren. Wohlgemerkt: windbetriebener
bzw. mit Blasluft betriebener
Tongeneratoren, die grifflochbespielten Röhren vorgeschaltet werden können.
(03)
Siehe dazu auch:
Eichler, Bernd H. J., Zur Position der sogenannten „durchschlagenden Zunge“ im „natürlichen System der Musikinstrumente“, (Vortrag
vom 20.11.1999 zum 20. Musikinstrumentenbau Symposium, vom 19.-21.11.1999 im
Kloster Michaelstein)
Ein so betriebenes Dudelsackinstrument wäre allerdings eher asiatischen
Musikkulturen zuzutrauen, ist aber inzwischen wohl kaum noch zu erwarten und als
historische Möglichkeit gewissermaßen längst verpasst worden.Eher denkbar wäre aber künftig ein dudelsackartiges
Instrument mit dem hier anschließend erwähnten membranophonischen Tongenerator,
zumal es sich, unter dem physikalischen Aspekt der Energiewandlung betrachtet,
bei diesem - ganz im Unterschied zur „rahmenjustiert spaltgenau
durchschwingenden“ Zunge - um einen der effektivsten windbetriebenen bzw. „natürlich akustisch“ wirkenden
Tongeneratoren überhaupt handelt.
(04)
Siehe dazu:
Eichler, Bernd H. J., Über mögliche Konsequenzen zur Systematisierung von Musikinstrumenten
angesichts eines inkonsequent gebrauchten Begriffs der „Systematik der Musikinstrumente“,
(Vortrag vom 24.4.1998 zum 60. Geburtstag von
Dr.H.Düsterhöft)
Kurze Zeit nach diesem Vortrage lernte ich auch Herrn Bernhard
Schimpf, den Erfinder des von ihm „Elastophon“ genannten Instrumentes kennen, der
diesen, bei ihm mundgeblasen verwendeten Tongenerator, für seine spezielle
Musikinstrumentenerfindung nutzt.
(05)
Dass ich hier jeweils von „sogenannten“ spreche und im
vorliegenden Beitrag dann auch entsprechende Anführungszeichen verwendet habe,
hat seinen Grund darin, dass diese weitgehend üblichen Bezeichnungen zwar zunächst
allgemein verstanden werden, letztlich jedoch jeweils sehr irreführend sind. Dementsprechendes
habe ich - im Sinne einer generellen Verbesserung
bzw. Neukonzipierung der Systematik der Musikinstrumente- auch
im zitierten Vortrag zum Symposium in Michaelstein(siehe Anmerkung 3) am Beispiel der
sogenannten „durchschlagenden“Zunge eingehender ausgeführt.
(06)
Ein aufschlussreiches Beispiel für dementsprechende
Konflikte ergibt sich anlässlich des zum 20. Musikinstrumentenbau-Symposium im
Kloster Michaelstein nachträglich eingereichten Beitrages von Jobst P. Fricke
„Systematik der Klangerzeugung mit Zungen“.
Vergleicht man diese Systematikauffassung mit meinem dort
gehaltenen Vortrag, so kann man leicht eine Vorstellung von den
Unterschiedlichkeiten in der Interpretation tongenerierender Zungen bekommen - nicht nur in Bezug auf eine allgemeine
Systematik-Auffassung, sondern speziell auch hinsichtlich der Bewertung der
Möglichkeiten der rahmenjustiert-spaltgenau
durchschwingenden Zunge. Mir war die Betonung der Tatsache, dass die Ankopplung
der rahmenjustiert-spaltgenau durchschwingenden Zunge auch an flötenartig grifflochbespielte
Röhren schon seit Langem in Asien zu finden ist, sowie der Hinweis auf die von
mir experimentell erprobte Möglichkeit, ein solches grifflochbespieltes Instrument auch wie eine Schalmei, als
Melodiepfeife am Dudelsack betreiben zu können, wichtig. Ganz anders bei
J.P.Fricke, der hier auf eine diesbezügliche europäische Erfindung von Ernst Zacharias
verweist.
Es würde zu weit führen, hier auf die vielen weiteren
Widersprüchlichkeiten zwischen und auch innerhalb dieser beiden Systematikauffassungen
einzugehen, die - wie ich denke- bei eingehenderer
und vergleichender Betrachtung jedem
Fachspezialisten deutlich werden können.
Siehe dazu auch: Eichler, Bernd H. J., Versuchungen zur
Systematisierung natürlich-akustischer Musikinstrumente aus Sicht und Situation
der Vergleichsanalytischen Organologie, (Vortrag vom 26.11.1997, gehalten am
Interdisziplinären Institut für Wissenschaftsphilosophie und Humanontogenetik
an der Humboldt-Universität zu Berlin)
(07)
Zur Frage, ob es sich hierbei tatsächlich um den vergleichsweise
„einfacheren“ Tongenerator handelt, siehe auch:
Eichler, Bernd H. J., Das Hümmelchen – ein altdeutscher
Dudelsack, Leipzig 1990
oder beispielsweise auch:
Collison,
Francis, The Bagpipe, London and Boston 1975
Wenn man das sogenannte „einfache Rohrblatt“ einfach für das
einfachere hält, so finden sich auch leicht einfache Antworten zur Erklärung
der europäischen Dudelsackgrenze, die dann ebenfalls als trivial erscheinen
kann, denn das Einfache und Primitivere dominiert eben einfach dort, wo eben
auch ansonsten einfachere und primitivere Verhältnisse herrschen, und so eben
auch bei den einfacheren Dudelsäcken in Osteuropa…
Und auch die gegenwärtige Bevorzugung der Deutschen für das Doppelrohrblatt
beim Dudelsack erscheint so, in Anbetracht der hoch zivilisierten Verhältnisse innerhalb dieser
kulturvollen und musikalisch so einflussreichen Nation, nur als allzu folgerichtig…
Dass derartige Trivialisierungen aber an der viel
komplexeren Problemsituation nicht nur vorbeischauen, sondern sie letztlich weiter
verschärfen und komplizieren, kann hoffentlich deutlich gemacht werden.
Aus Sicht der vergleichanalytischen Organologie ist
beispielsweise nahe liegend, dass das historisch offenbar viel früher
entstandene „Doppelrohrblatt“ als der zunächst einfachere Tongenerator zu betrachten
ist und dann hohe Aufmerksamkeit auf die so unterschiedliche weitere
Entwicklungsdynamik der beiden hier gegenüberstehenden Tongeneratoren gerichtet
werden muss, wobei für deren differenzierteres Verständnis wohl vor allem
bestimmte Entwicklungen arbeitsteiliger
Herstellungstechniken von Bedeutung sind.
(08)
Siehe:
Praetorius, Michael, Syntagma musicum, Wolfenbüttel 1619
(09)
Eichler, Bernd H. J., Das Hümmelchen – ein altdeutscher
Dudelsack, Leipzig 1990
(10)
Die Revitalisierungsbemühungen um deutsche Dudelsäcke und
deutsche Dudelsackmusik im Osten Deutschlands waren damals, neben der
zunehmenden Nutzung verschiedener Dudelsäcke in kleineren regionalen Ensembles,
auch durch die Gründung einer privaten Interessengemeinschaft „Deutsche
Dudelsackbrüderschaft der DDR“ und einer später gegründeten, umfassender und
überregional organisierten Spielergemeinschaft „Deutsche Dudelsackspieler Runde
/ DDR“, gekennzeichnet.
Eichler, Bernd H. J., Dem Folk aufs Maul geschaut / Was ist
eigentlich wirklich neu an der neueren Musikfolklorebewegung?, in: Musikforum
4/1984
Eichler, Bernd H. J., Friedensgedanke und Arbeiterlied, in:
Musikforum 3/1985
Eichler, Bernd H. J., Der Dudelsack / Tradition und
Gegenwart, Leipzig 1985
(11)
Eichler, Bernd H. J., Einige Bemerkungen zur Dudelsackentwicklung in
der DDR und zu erweiterten Möglichkeiten eines Hümmelchen-Instrumentes,
(Vortrag beim Internationalen Festival der Dudelsackpfeifer, August 1989 in
Strakonice CSSR)
Meiner Erinnerung nach war dann gegen Ende der achtziger
Jahre, als das Interesse am Bock - und somit auch am sorbischen Bock -auch unter den ostdeutschen Neofolkloristen
etwas zunahm und sich auch allmählich mehr „offizielle“ Kontakte zwischen
ostdeutschen und westdeutschen Dudelsackinteressenten
zu entwickeln begannen, das
ernsthaftere, gründliche Interesse an sorbischen Dudelsäcken oftmals wiederum eher
bei den Westdeutschen zu bemerken.
(12)
Eichler, Bernd H. J., Einige grundsätzliche Aspekte zum
besseren Verständnis von Musikinstrumenten im Lichte der Arbeiten des
Verhaltensphysiologen Erich von Holst; (Vortrag zur Tagung des Nationalkomitees
der DDR im International Council for Traditional Music in Neustrelitz, 27.-29.
September 1989)
(13)
Beispielsweise wäre die Herstellung einfacher, aber musikalisch
durchaus effektiver Dudelsack-Instrumente mit „einfachem Rohrblatt“ auch als
überaus preiswerte industrielle Massenproduktion aus modernen Plastewerkstoffen
(insbesondere hinsichtlich der
Tongeneratoren, die dabei auch in gleich bleibend hoher Präzision massenhaft
produziert werden könnten) denkbar.
Derartige Instrumente könnten – ob als „pädagogisch
wertvolles Kinderinstrument“ oder als Dudelsackinstrument für allgemeineren
musikantischen Gebrauch - in ganz Europa,
aber auch in aller Welt, Verbreitung finden.
Außerdem ist hier zu bedenken, dass Instrumente in Gestalt der
Schaperpfeiff auch mit einer zylindrisch gebohrten Melodiepfeife bestückt
werden können, und damit sowohl für die Nutzung von„einfachem“ aber auch von „doppeltem Rohrblatt“ geeignet wären.
Und im Weiteren kann auch noch eine wiederum andere Möglichkeit
ins Auge gefasst werden: Instrumente in der Art des Bockes, welche bislang
traditionellerweise mit „einfachem Rohrblatt“ bestückt sind, können - in entsprechender Zurichtung - auch mittels „Doppelrohrblättern“ zum Klingen
gebracht werden. Versuche an entsprechenden vergleichsanalytischen Experimentalmodellen
(siehe dazu wieder: Eichler,B.H.J., Ausgewählte Thesen und Anmerkungen zur
„Vergleichsanalytischen Musikinstrumentenforschung (VAO), / Anmerkung 1) bestätigen
dies. Ein in dieser Weise verändertes Bock-Instrument klingt dabei zwar etwas
anders, behielte zunächst aber auch viel von seinem ursprünglichen Charakter,
und so wäre ohne Weiteres denkbar, dass es dann auch ohne allzu großen
Widerstand in eher traditionell ausgerichteten
Musikantenformationen Verwendung finden könnte. Dort könnten dann auch seine spezifischen
Vorteile, etwa hinsichtlich Pflegeleichtigkeit und verbesserter
Intonationssicherheit, zum Zuge kommen und sich so eine gesicherte Basis für
weitere Entwicklungsmöglichkeiten ergeben.
(14)
Das mit Blasbalg größer und schwerer, sowie spieltechnisch
in gewisser Weise umständlicher werdende Instrument wird insgesamt
pflegeleichter und nun auch nicht mehr ständig durch feuchte Atemluft
gefährdet, - es erhält allein dadurch schon größere Überlebenschancen, wobei
insbesondere auch die überaus empfindlichen Tongeneratoren weniger häufig
zurechtgemacht bzw. erneuert werden müssen. Im Laufe der weiteren Nutzung
blasebalgbetriebener Tongeneratoren, können diese zudem auch auf ganz andere
Druckverhältnisse eingerichtet werden. Außerdem ist zu bedenken, dass das zuvor
mundgeblasene Instrument für seinen Spieler natürlich als Hauptinstrument wirkte.
Sobald er aber die Möglichkeit intensiver nutzt, nun auch zu seinem
Instrumentalspiel zu singen, wird es in gewisser Weise zum Neben- und
Begleitinstrument und erhält in dieser Funktion zwangsläufig neue musikalische
Aufgaben: Es begleitet, verziert und umspielt den Gesang des Spielers. Und ein
solcher Funktionswandel wird sich dann auch
auf seine weitere Verwendung im Zusammenspiel mit verschiedenen anderen
Instrumenten auswirken. Es können also ganz neue musikalisch/musikantische
Bindungen entstehen, die dem Instrument auch einen festeren Platz innerhalb
einer dementsprechend entfalteten, jeweils von musikantischen Kollektiven, und
nicht mehr nur von solistisch agierenden Einzel-Spielern getragenen Musikkultur
sichern können.
(15)
Hier sei auf den von
mir seit Langem benutzten gefederten Blasebalg hingewiesen (siehe dazu wieder
Eichler, B. H. J., Einige grundsätzliche
Aspekte zum besseren Verständnis von Musikinstrumenten im Lichte der Arbeiten
des Verhaltensphysiologen Erich von Holst, / Anmerkung 12); es geht aber auch um
eine gründlichere physikalische Erforschung der aerodynamischen Möglichkeiten
des armbetriebenen Blasbalges mit Hilfe labortechnisch exakt messbarer Effektivitätskriterien.
(16)
Die wichtigste Veränderung für das Wirken der Tongeneratoren
im blasebalgbetriebenen Dudelsack besteht wohl darin, dass diese nicht mehr durch die
Temperatur und die Feuchtigkeit der Atemluft des Bläsers beeinflusst werden. Es
ergeben sich also ganz andere Bedingungen, sowohl für das „einfache“ als auch für
das „doppelte Rohrblatt“. Dabei liegt nahe, dafür nun auch neue, modernere
Rohrblatt-Materialien zu nutzen.
Die bisherigen Entwicklungen von modernen
Kunststoff-Doppelrohrblättern etwa für Oboe oder Fagott, aber auch von entsprechenden
Blättern für Saxophon und Klarinette, erfolgte jedoch in Hinblick auf immer
wieder feucht werdende mundgeblasene Instrumente, wobei zumeist auch versucht
wurde, bestimmte Merkmale des biogenen
Vorbildes arundo donaxnachzubilden, und dabei natürlich stets die Temperatur
und die Feuchtigkeit der Atemluft sowie der Einfluss des Lippendrucks des
Bläsers berücksichtigt werden musste. Für eher dudelsackspezifisches
Blatt-Material müssten hingegen speziellere Werkstoffe entwickelt werden, die
sich eben nicht auf die Nachahmung des
biogenen Vorbildes, welches natürlicherweise Feuchtigkeit aufnimmt, orientieren
sollten. Allgemeine Veränderungen der Luftfeuchtigkeit und
Temperaturschwankungen stellen auch beim blasebalgbetriebenen Dudelsack große
Unsicherheitsfaktoren für das zuverlässige Wirken solcher Tongeneratoren dar.
Insofern müssten hier auch neuartige, ganz spezielle Blatt-Materialien
entwickelt werden, die außer ihren spezifischen Klangeigenschaften auch über
ein hohes Maß an Unempfindlichkeit gegenüber diesen Unsicherheitsfaktoren
verfügen.
Dementsprechende Tongeneratoren wären dann aber wiederum
eine gute Grundlage, um auch bestimmte Weiterentwicklungen an der
Melodiepfeife, wie etwa praktikable Umfangserweiterungen und sichere Überblasmöglichkeiten
(auch auf zylindrischen Röhren!), gezielt forcieren zu können.
(17)
Hier wäre unter anderem an die Verantwortung von Museen und
Ausstellungs-Institutionen zu denken, die gerade beim Thema Dudelsack vor dem Problem
der spezifisch museumsdidaktischen Vermittlung stehen.
(Der Wortgebrauch „museumspädagogisch“ scheint mir- obwohl schon seit den dreißiger Jahren in
Deutschland fest etabliert - ausgesprochen fragwürdig, zumal er den besonderen
Bildungspotenzen von Museen nicht angemessen ist; - siehe dazu auch: Eichler, Bernd
H. J., Über den besonderen Bildungswert spielerisch in die Hand genommener und
systematisch im Sinn bewahrter Musikinstrumente, Beitrag zur Diskussion „Forum
Bildung“ vom Juli 2001)
Eigentlich kann man diese beziehungsreichen und problembeladenen
Instrumente in deutschen Museen nicht einfach ohne weiteres exponieren, ohne
sich dem hier geschilderten „Ost-West-Spannungsfeld“ in gewisser Weise zu
stellen. – Aber welch komplizierte Anforderung für ein Musikinstrumentenmuseum!
Als besonders bedenkliches Beispiel sei hier nur auf das
Musikinstrumentenmuseum in Markneukirchen hingewiesen: Dort wurde jahrzehntelang
ein völlig verfehlt restauriertes Bock-Exemplar ausgestellt, welches - offenbar wegen seiner auch durch die
unsinnige Restauration entstandenen, besonders „exotischen“ Anmutungsqualität –
auch von der Deutschen Post der DDR auf Briefmarken abgebildet wurde. Sogleich
wurde diesem verfehlten Ausstellungsstück ein weiteres, nämlich die verfehlte Briefmarke
beigefügt. Und obwohl die Leitung des Museums mehrfach und in größeren
Abständen, auf diese Fehlleistungen hingewiesen wurde und fachkundige
Dudelsackspieler auch allenthalben über diesen Fauxpas gelacht haben, überwog im
Museum doch stets der Stolz über die Würdigung der Deutschen Post, so dass- mit dem
nur schwer erschütterbaren Selbstbewusstsein einer alt-ehrwürdig, fest
etablierten und qoutensicher-touristenwirksamen Institution- beide Unsinnigkeiten auch weiterhin in der
vielbesuchten Ausstellung verblieben…
Außerdem denke ich, dass es auch eine spezifische Verantwortung
der Wissenschaften geben kann. So z.B. für die Volkskunde, die angesichts der
verschiedensten jüngeren Dudelsackaktivitäten in Deutschland die Gelegenheit
nutzen könnte, diese überaus bemerkenswerte Entwicklung auch im statu nascendi
zu beobachten und zu begleiten.
Eine Entwicklung, die zudem ein besonderes modernes Feld
aktueller Forschungsmöglichkeiten/Forschungsnotwendigkeiten beinhaltet, - nämlich
die spezifisch städtische Entwicklung derartiger Phänomene, die sich, im
Unterschied zur bisherigen Gegenstandsgestaltung der Volkskunde, ja nicht
vorrangig ländlich, sondern vielmehr urban, quasi als „urban folk“, entwickeln. Dabei
wäre nun auch zu bedenken, dass es inzwischen wieder eine Reihe aktiver, sowie auch
einige professionell agierende Dudelsackbauer in Deutschland gibt.
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Hier können sich wiederum die Geister scheiden, denn spontane
Neuerungen haben auch innerhalb traditioneller Kulturen oft zur Verdrängung
bestimmter althergebrachter traditioneller Werte geführt. - Neuerungen müssen dort aber nicht zwangsläufig
wertegefährdend wirken.
Das Beispiel des Blasebalges kann hier wieder aufschlussreich
sein.
Mit seiner Anfügung wird das Instrument zwar schwerer und in
gewissem Sinne auch umständlicher, und die oft beeindruckend wirkende
instrumentenspezifische Vorführung des mundgeblasenen Sackes entfällt (der
Spieler muss also auf diese attraktive Seite seiner Vorstellung verzichten),
aber der Spieler gewinnt nicht nur die Möglichkeit des Singens zum
Instrumentalspiel, sondern auch mehr Sicherheit und dauerhafterer Existenz für
seinen Dudelsack. Das Instrument ist zudem
- so umständlich zunächst das
jeweilige Anschnallen des Blasebalges an Leib und Armen auch jeweils sein mag -
insgesamt doch bequemer zu handhaben, da das immer wieder erforderliche aufwändige
Entwässern des zuvor oral betriebenen, das heißt auch immer wieder feucht
werdenden Instrumentes bei Blasebalgbetrieb entfällt. Zudem wird das ansonsten
immer wieder nötige Auseinandernehmen des Instrumentes zum jeweiligen Neueinrichten
der zuvor immer wieder feucht werdenden Tongeneratoren, nun auf ein Minimum
reduziert. Und bei diesem Beispiel zeigt sich neben diesen Vorteilen auch, dass
diese Neuerung zwar auch neuartige Einsatzmöglichkeiten, aber zunächst auch
keine allzu großen Konflikte in Hinsicht auf die bisherigen Spielgepflogenheiten
und musikantischen Anwendungen des Instrumentes mit sich bringen muss. Es kann mit
dieser Neuerung ziemlich problemlos innerhalb der bisherigen traditionellen Gewohnheiten
und Anforderungen eingesetzt werden, - sich aber auch neue Bereiche erschließen.
(Siehe auch Anmerkung 14).
Wie unter Anmerkung 13 ausgeführt, könnte es sich bei der entsprechenden
Nutzung von Doppelrohrblättern beim Bock durchaus ähnlich verhalten.
Die Bedenken aber, dass bei beliebigen spontanen Neuerungen an
traditionellen Instrumenten tatsächlich traditionelle Werte unbeachtet bleiben und
verloren gehen können, sind andererseits jedoch oftmals sehr berechtigt und
wohl begründbar.
So sind beispielsweise verschiedene Formen (oder
Ausführungsgrade) der „gedeckten Spielweise“, die für viele
Dudelsackinstrumente charakteristisch sind und nur so ganz bestimmte musikalische
Verzierungstechniken, aber auch besondere instrumentenspezifische Klangbildungen
ermöglichen (siehe dazu wieder: Eichler, B. H. J., Das Hümmelchen – ein
altdeutscher Dudelsack, Leipzig 1990) durchaus gefährdet, sobald Dudelsack-Melodiepfeifen
gedankenlos chromatisiert, bzw. einfach unüberlegt mit zusätzlichen Grifflochklappen
ausgerüstet werden…
Es sollte also stets genau unterschieden werden zwischen unbedenklichen
Neuerungen bzw. Neuerungen die zur Erhaltung bestimmter Werte beitragen können,
und Neuerungen mit diesbezüglich signifikantem Konfliktpotenzial. Und im Falle
von Werte-Konfliktträchtigkeit sollten anstehende Neuerungen zunächst jeweils
genauer analysiert werden, um dann zu erwägen, welche wohlüberlegten und genau
konzipierten Kompromisse gegebenenfalls gestaltet
werden können.
Ganz anders würde es sich verhalten, wenn der eingangs erwähnte
membranophone Tongenerator tatsächlich für ein Dudelsackinstrument in Anwendung
käme.
Damit könnte dann eine neue Traditionslinie ganz anderer Art
begründet werden, welche die eben geschilderten Konflikte zunächst nicht auszustehen
hätte, sondern frei erfinderisch und experimentierfreudig ganz Neues ins Spiel bringen
könnte, zumal dieser Tongenerator (gegebenenfalls auch in Verbindung mit der
erwähnten Erfindung von B. Schimpf / Anmerkung 4) wiederum ganz neue
Dimensionen für die Entwicklung eines entsprechenden Dudelsack-Instrumentes
eröffnen kann. Entsprechende Neuerungen würden dabei aber innerhalb unserer
Kultur letztlich doch auch in die große Traditionslinie dieser besonderen,
bislang spezifisch europäisch geprägten Dudelsack-Instrumentenkultur einfließen
und dort sicherlich auch einen spezifischen Platz finden können.
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